Die Spinne
Von Hanns Heinz Ewers
Als der Student der Medizin Richard Bracquemont sich entschloß, daß Zimmer Nr. 7 des kleinen Hotel Stevens, Rue Alfred Stevens 6, zu beziehen, hatten sich in diesem Raume an drei aufeinanderfolgenden Freitagen drei Personen am Fensterkreuz erhängt.
Der erste war ein Schweizer Handlungsreisender. Man fand seine Leiche erst Samstag abend; der Arzt stellte fest, daß der Tod zwischen fünf und sechs Uhr Freitag nachmittags eingetreten sein müsse. Die Leiche hing an einem starken Haken, der in das Fensterkreuz eingeschlagen war und zum Aufhängen von Kleidungsstücken diente. Das Fenster war geschlossen, der Tote hatte als Strick die Gardinenschnur benutzt. Da das Fenster sehr niedrig war, lagen die Beine fast bis zu den Knien auf dem Boden; der Selbstmörder mußte also eine starke Energie in der Ausführung seiner Absicht betätigt haben. Es wurde weiter festgestellt, daß er verheiratet und Vater von vier Kindern war, sich in durchaus gesicherter und auskömmlicher Lebensstellung befand und von heiterem, fast stets vergnügtem Charakter war. Irgend etwas Schriftliches, das auf den Selbstmord Bezug hatte, fand man nicht vor, ebensowenig ein Testament; auch hatte er keinem seiner Bekannten gegenüber jemals eine dahingehende Äußerung getan.
Nicht viel anders lag der zweite Fall. Der Artist Karl Krause, als Fahrradverwandlungskünstler in dem ganz nahe gelegenen Cirque Médrano engagiert, bezog das Zimmer Nr. 7 zwei Tage später. Als er am nächsten Freitag nicht zur Vorstellung erschien, schickte der Direktor den Theaterdiener in das Hotel; dieser fand den Künstler in dem nicht verschlossenen Zimmer am Fensterkreuz erhängt vor, und zwar unter den durchaus gleichen Umständen. Dieser Selbstmord schien nicht weniger rätselhaft; der beliebte Artist bezog recht hohe Gagen und pflegte, ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann, sein Leben in vollen Zügen zu genießen. Auch hier nichts Schriftliches, keinerlei verfängliche Äußerungen. Die einzige Hinterbliebene war eine alte Mutter, der ihr Sohn pünktlich an jedem Ersten zweihundert Mark für ihren Lebensunterhalt zu schicken pflegte.