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Mittwoch, 26. Oktober 2022

Die Tauben von San Marco


 Elisabeth Dauthendey

Die Tauben von San Marco

Venedig.

Wer vergisst sie je, der sie einmal schaute.

Diese einzig Geartete unter allen Städten der Erde.

Der Klang ihres Namens ist wie ein bebender Glockenton aus weiten, dunklen Fernen.

Dieser Klang geht mit uns durch die seltsam engen Gassen. Schaukelt auf den müden Wellen der blauschwarzen Wasserwege. Steht wie ein versteinertes Echo über den finsteren, drohenden Herrlichkeiten der einsamen Paläste

Venedig –

Die dich zum erstenmal schauen, gleiten wie Schlafwandelnde durch den Traum deiner farbenglühenden Stille. Ihre Seelen sind wie weit offene Schalen, bis zum Rande gefüllt von dem Rausche deiner flüsternden Geheimnisse, die zwischen deinen nachtschwarzen Wassern und der seidenweichen Bläue deiner Höhe hängen.

So gleitet Elena durch die Tage und Nächte Venedigs.

Kühl wie der junge Morgen, vom herben Dufte der ersten Reise umwebt, steht sie verwirrt wie ein scheuer Vogel an der Schwelle dieser berauschenden Offenbarungen, deren lockende Stimmen an die Verborgenheiten ihres eigenen Wesens dringen.

Vom Leben schon berührt, doch noch nicht zu ihm erwacht, lauscht sie in sich hinein und bleibt ohne Antwort auf die drängenden Fragen.

Und die antwortlose Leere ihrer Seele öffnet sich in schrankenloser Weite der berauschenden Fülle umher, die sie mit unerhörten Herrlichkeiten schier qualvoll überstürzt.

Wie war es doch –

War es ein Tag? Ein Traum –

So weit weg liegt es, was sie doch so tief bewegte, seit sie den Fuß an das seltsam unwirkliche Gestade dieser Stadt setzte, die ohne Schall und Laut in die Melancholie atemloser Zeitlosigkeit eingebettet scheint.

Alle Erinnerungen ruhen. In dieser klanglosen Stille versinken sie wie in seidene Schleier.

Nur der Augenblick lebt.

Und jeder Augenblick ist ein neues Schauen und Ergriffensein, eine neue Entzückung und Aufgelöstheit in die fremde Seltsamkeit umher.

Wie ein Zauber liegt die Stille über den dunkeln Wasserwegen, die wie finstere Runen lang abgelebter Schicksale im leisen Flimmer des silbernen Südlichtes träge hinfluten, spinnt zwischen den Kuppeln der Dome und den ragenden Palästen und liegt wie ein weicher Teppich über den engen Gassen hingebreitet.

Der schwirrende Flug der unzähligen Tauben von San Marco ist der einzige Ton, der diese Stadt bewegt, der aus ihr kommt und ihr gehört.

Wenn es vom Torre d'Orologio Mittag schlägt –

Das ist die Stunde, da die Scharen der Fremden sich auf der Piazza sammeln, um dem Fluge der Tauben zu lauschen, der gleichsam eine Erlösung aus der geisterhaft starren Stille ringsum zu bringen scheint.

Elena steht mitten unter ihnen. Auch sie hat die Hände voll Brosamen und streut sie dem lustgirrenden Gevögel achtlos hin.

Achtlos, wie im Traum.

Denn schlafwandelnd geht sie durch die Tage.

Alle Wege zu sich selbst sind überladen von all dem Neuen und Gewaltigen, das über sie kam. Alle Brücken zur Vergangenheit aufgehoben. Zu jäh war der Schritt aus der Leere ihrer unbewegten Jugend zu den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Wochen und Tage.

In kurzen Wochen ist sie Braut und Weib geworden.

Kaum aber war sie am bräutlichen Kusse zu dem leisen Erstaunen erwacht, das ihre schlafende Seele fast mit Schrecken erfüllte, entriss ihr der rauhe Wille des tobenden Krieges den Verlobten. Und wenige Wochen darauf ward sie sein Weib.

Mittwoch, 19. Oktober 2022

Der nie geküsste Mund


 Elisabeth Dauthendey

Der nie geküsste Mund

Die Fenster der kleinen Villa standen ringsum weit offen, als wollten sie die wollüstige Südwärme gierig einsaugen, um gegen die Kälte der Nacht Schutz und Widerstand aufzuspeichern. –

Auf der Loggia, in kostbare Decken gehüllt, lag ein junges Weib. An den Glaswänden hingen die Zweige der gelben chinesischen Kletterrose wie schwere Vorhänge, die das grelle Südlicht zu sanfter Dämmerung abblendeten.

Ena schlief.

Leise erhob sich die Krankenschwester, sah mit einem sorgenden Blick zur Ruhenden hin und huschte weich und lautlos zur Türe hinaus.

Draußen rauschte das Meer. Die dumpfe Kadenz der an das Ufer stoßenden Wellen schwoll und verhauchte in schwermütiger Eintönigkeit und mischte sich mit den schwebenden Düften der Eukalypten und Orangen zu einer seltsamen Melodie voll honigschwerer Süße.

Mit diesem Umkreis tiefgesättigter Schönheit verwob sich die Gestalt des schlafenden Weibes zu einem Zustand atemloser Erwartung. Als harre alles auf den Augenblick, da diese stumm verschlossenen Lider sich auftun würden, um allem umher erst Wirklichkeit und Sein zu geben.

Voll Lockung und Rätsel war dieses Antlitz.

Wie alt mochte es sein?

Es gibt Gesichter, die sehr lange ohne jeden Verrat bleiben auf diese Frage. –

Das Leiden hatte diesen adelsrassigen, bis in die Fingerspitzen vollkommen gebauten Körper mit jener wehen Durchgeistigung umhüllt, welche gleichsam die letzte Idee des zeugenden Lebenswillens zu asketischer Reinheit herausmodelliert. –

Ena schlug die Augen auf.

Es war, als ob düstere Fackeln in einer tiefen Grotte auflohen. Eine schwermütige Unruhe, wie eine vor dem Sturme herwehende Flamme, bebte aus den großen, sammetweichen, von feuchten Glanzlichtern überstrahlten Augen.

Das blauschwarze Haar breitete sich in reicher Fülle wie geheimnisvolle Nachtschatten um das elfenbeinfeine Gesicht, in dem der glührot blühende Mund von einem leisen, welken Zug schmerzlicher Sehnsucht umdunkelt war.

Ena erhob sich mit dem Elan eines raschen, heißen Temperamentes, dem die Hemmungen des inneren Leidens aber sofort die überschätzte Spannung nahmen, so dass die Schritte müder und die Flammen der Augen stiller wurden, als sie sich bis zur Brüstung der Loggia hingeschlichen hatte.

Ena breitete die Arme gegen die blauende Inbrunst des gleißenden Südlichtes, ihre Brust hob und senkte sich und nahm mit tiefer Wollust all die weite Bläue und duftende Wärme in sich auf.

Und Ena sprach mit ihrem Herzen.

– Göttliches – Göttliches bist du, Schönheit –

Wie tust du mir wohl. Meinem wehen Leibe, meinem darbenden Blute – meiner meerestiefen, schmerzhaften Sehnsucht –

O Leben, Leben, bleibe – fliehe nicht vor meinen schwachen Schritten – mein ganzes Sein greift nach dir – ich liebe dich, Leben – Halte still – einen seligen, gewaltigen Augenblick, dass ich dir ins letzte Zeichen deiner abgrundtiefen Lockungen schaue und die Tore endlich offen finde, die du mir so hart verschlossen hältst.

Gehe nicht von mir, – Leben – ehe ich wissend wurde um dich. –

Schon war die Gewalt ihrer weitgespannten Seele wieder zuviel für die vom Leiden untergrabenen Kräfte.

Blass und einer Ohnmacht nahe sank Ena gegen die Säule. Sie fühlte sich von den starken Armen der Schwester zart umfangen und linde und liebevoll zum Lager zurückgenommen.

– Ena, geliebte Ena, lass deine Kraft ruhen – lass alles ruhen in dir und an dir nur in der Ruhe kannst du genesen. –

– Ruhen – Ena stieß das Wort mit furchtbarem Hohn hinaus, – ruhen, ehe man gelebt – ich verzehre mich vor Sehnsucht nach dem Leben, und du sprichst von ruhen – Flammen sind in mir, und ich soll glimmen wie ein ausgelöschtes Licht. –

– Lass die Flammen deiner Seele zum Ewigen aufsteigen, so werden sie sanft gehen wie auf Taubenfüßen. –

– Der Ewige hat mich betrogen. –

Der Tod steht auf der Schwelle, ehe das Leben zu mir kam. –

– Wartet nicht das Leben hinter dem Tode – sagte die Nonne mit erschüttertem Herzen und redete mit ihrem Gotte in ihrer Sprache.

Ein leises Klopfen kam von der Tür. Die Nonne öffnete und ließ den Arzt herein.

Ein kleiner, beweglicher Mann trat ein, verbeugte sich elegant und tänzelte mit leichten Schritten zum Lager hin.

Der ziemlich simple Blick seiner Augen erhielt durch die scharfen Gläser einen intelligenteren Ausdruck, als ihnen zukam, und die hohe Leere über der Stirn rückte auch diese in eine geistigere Region, als sie an sich zu beanspruchen hatte.

Ena grüßte mit den Augen, dann schloss sie sie.

Dieser Mann machte sie durch seinen bloßen Anblick leiden. Die absolute Leere, die ihn umgab, und Stimme und Gesten zu rein automatischen Wirkungen brachte, reizte ihre Sensibilität bis zur Schmerzhaftigkeit. Aber da er ihr als einziger deutscher Arzt am Orte empfohlen war, blieb ihr keine Wahl.

– Komtesse sind heute sehr angegriffen –

– Gestatten, Komtesse, – und er näherte sich, um sie zu untersuchen.

Ena schleuderte einen Flammenblick über ihn hin. –

– Nun dann nicht – sagte er mit einem vergeblichen Versuch, überlegen zu lächeln.

– Hat Sie etwas besonders verstimmt heute? –

– Ist das Leben an sich nicht Verstimmung genug – und meines im besonderen. –

– Es kommt darauf an, wie man's sieht. Was kann Leben Besseres sein als ein Ruhen auf dem sicheren Grunde, der alle Wünsche erreichen lässt – und Sie brauchen nur zu winken, und alle guten Dinge des Lebens kommen zu Ihnen. –

– Nur das Leben selbst nicht – rief Ena mit greller Stimme, die dem Manne wie ein Peitschenhieb über die Nerven fuhr. –

Er erhob sich. Er fühlte, dass da etwas in tieferen Gründen krank und leidend war, Gründen, zu denen er keinen Zugang hatte, und mit denen sich zu beschäftigen ihm gänzlich fern lag. Das Körperliche war sein Bereich, was ging das übrige ihn an.

– Komtesse ist aufgeregter, als für ihren Zustand gut ist –, sagte er draußen zur wartenden Schwester – ich werde den deutschen Priester schicken, der eben in der Kolonie angekommen ist. –

– Ist es schon so weit – fragte mit angstvoller Stimme die Nonne. –

– Nicht weiter, nicht näher als bisher – aber man kann bei diesen Kranken nie wissen. –

Und damit befreite er sich von dem peinlichen Gefühl einer Verantwortlichkeit für diese leidende Seele, die einen Augenblick wie ein flüchtiger Schatten gegen den leeren Raum seines Geistes angeflogen war.

– Der Kaplan aus der Kolonie will dir seinen Besuch machen – meldete die Nonne einige Tage später.

Ein fliegender Schrecken zuckte über Enas Gesicht.

– Nein – nein, Liebe – er besucht alle Deutschen am Ort. –

Ena atmete auf.

Der Kaplan trat ein.

Hoch, aufrecht, mit festem, von einem starken Willen gemäßigten Schritt kam er heran.

Das dunkle Haupt mit den großen, freien Zügen wirkte düster im ersten Eindruck. Aber das strahlende, fast feierliche Leuchten in den Augen und die bewegliche, nervöse Linie um den von seiner Sinnlichkeit geschwellten Mund hellten jene Dunkelheit auf und brachten einen seltsam aufreizenden Widerspruch in das junge, allzu früh gereifte Angesicht.

Der Priester verbeugte sich weltmännisch sicher und mit geschmeidiger Würde.

Aber das Wort wollte nicht kommen zwischen ihnen.

Beider Blicke blieben ineinander haften. Mit krankhaft fiebernder Hast durchforschten Enas Gedanken diese neue Gestalt. Drangen in die Seele des Mannes. Ließen laute, brennende Fragen zu ihr hinschwirren und suchten die letzte Einsamkeit seines Wesens, um für die Unrast ihrer Qualen eine Schwelle der Ruhe zu finden.

In den Augen des Priesters stand erst ein großes Erstaunen. Er fühlte ein Erwarten, Wollen, in-Besitz-Genommenwerden, gleichsam ein jähes Erkanntwerden in den tiefsten Gründen seiner selbst, gegen das sich alles in ihm sträubte.

Zugleich aber fesselte ihn die flehende Eindringlichkeit dieser Augen, die wie Fackeln das wundervolle Antlitz überstrahlten, in deren überweiter, fiebernder Aufgeschlossenheit das schleichende Siechtum sich verriet, dem es bislang noch nicht gelungen war, diese makellose Schönheit unter seine Beschattung zu zwingen.

Und während dieser widerstreitenden Kreuzungen zwischen seiner verletzten Selbstsicherheit und gespannten Erwartung gingen aus dem heißen Atem des Schweigens ihrer beider Seelen einander entgegen und grüßten sich und wussten umeinander, ehe noch ein Laut zwischen ihnen war, und so kam es, dass, als endlich die Stille überwunden werden musste, er mit viel näheren Worten zu ihr sprach, als ihm vorerst noch zukam. –

– Wir sind beide Fremde hier – sagte er, das gibt uns eine Heimat zueinander. –

Ena lauschte betroffen.

Diese fremde Stimme kam wie aus weiter Ferne und griff doch so warm nach ihr, ihr dunkler Klang hatte etwas von der duftenden Schwere der Südrosen und der herben Weinsüße dieses gebenedeiten Landes.

Und als die ihre wie eine zarte, reine Glocke zu ihm hinübertönte, eine Glocke, die zwischen Erd' und Himmel im Raume der ewigen Sehnsucht ihre keuschen, rufenden Klänge hinausbebt, lauschte auch er mit verhaltenem Atem, wie in ein neues Land hinein, zu dem diese Stimme eine schwebende Brücke war.

Ihre Worte sprachen aneinander vorüber, nebeneinander her, ohne sich zu treffen und zu vereinigen. Zu stark war die betäubende Macht, die von Ufer zu Ufer zwischen ihnen hinüber-und herüberströmte, jene geheimnisvolle Macht, die der Tiefe der Persönlichkeit entströmt, wie der erregende Duft erlesener Edelweine.

So hatten sie eigentlich einander nichts gesagt, als der Priester sich verabschiedete. Aber ihre Seelen waren voll voneinander bis zum Rande.

– Zu diesem werde ich reden können – und er ist ein Priester – dachte Ena, und ein friedliches Lächeln senkte sich auf ihre roten, fieberheißen Lippen.

– Endlich sind wir auf dem rechten Wege, – sagte die Nonne leise und küsste Ena auf die Stirn.

Der Priester ging mit seinen starken, ruhenden Schritten durch die köstliche blauende Luft, die den, der sie zum erstenmal schaut, mit tausend Wundern überschüttet, ihm das Eigenste zu seliger Offenbarung werden lässt. Er fühlte seinen Gott so greifbar nahe wie nie zuvor, und eine seltsam befreiende Aufgelöstheit ins All überkam seine Seele und ließ sie durchsichtig werden wie ein Kristall. –

Als sie sich wiedersahen, grüßten sie sich wie solche, die in der Stille ihres Herzens lange Zwiesprache miteinander gehalten.

In Enas Seele zersprang der eiserne Reif, der so lange die Bürde ihres Leibes zu schmerzhafter Qual zusammengepresst hatte. Nach wenigen Tagen lagen alle ihre Wunden ohne Scham und Scheu vor den wissenden Mannesaugen des gottgeweihten Priesters.

Sie fühlten einander nicht Weib noch Mann. Ihre Körper verflüchtigten sich gleichsam an der brennenden Freude aneinander zu einer Essenz der Schönheit, die sie wie eine köstliche Berauschung genossen und welche die Grundtöne ihrer seelischen Zwiesprache mit einer feinen zärtlichen Melodie umspielte.

Er kam nun täglich um die Abendzeit. Priester und Mensch in ihm gleich stark angezogen von der magnetischen Gewalt dieser von unheilbarem Leiden geheimnisvoll umblühten Schönheit.

Eines Abends war es.

Der Priester saß in der lässigen Haltung vornehmer Selbstsicherheit tief in einem der modernen Lehnstühle, die in ihrer raffinierten Stützung gleichsam alle körperliche Schwere aufheben und dem geistigen Fluid vollen Spielraum geben.

Er blickte in das göttliche Bild der abendlichen Landschaft.

Ena ruhte auf dem Lager.

Ihre reine, warme Stimme klang durch den Raum wie weher Glockenlaut. Sie sprach, als rede sie zu sich selbst.

– So bin ich immer einsam gewesen.

Von dem plötzlichen Tode der Meinen wie von einem engen Ring umfasst. Jäh herausgerissen aus einem täglichen Tumult rauschender Betäubungen. Das Leben ahnend in der Bedeutung seiner glühenden Feste, aber nie zu den Altären seiner Opferungen gelangend. –

– Was hinderte Sie, die Leidenschaft zu finden?

– Es war ein seltsam Doppelspiel in mir. Neben dem qualvoll brennenden Durst nach dem Lebenstrank die zageste Scheu vor dem Becher, aus dem ich trinken sollte. Ein Grauen vor dem Manne und ein Zwang zu ihm; zwischen diesen beiden Gewalten zu einer scheinbaren Kälte verdammt, die mich glühende Qualen erdulden ließ. –

Hätte ich Ihre Religion, wäre ich zu den Altären Gottes geflüchtet, um in den Ekstasen der Seele die des Blutes zu vergessen. –

Der Priester erschrak. Die zarte, lilienreine Stimme wurde plötzlich seltsam dunkel. Wie purpurrote Blutwellen brandete sie zu ihm hin.

Er blieb eingehüllt in seinem Schweigen. Er fühlte, der letzte Schrei ihrer todwunden Qual wollte sich aus der Tiefe lösen. Vielleicht brachte dieser die Erlösung, dass er dann der vom Kampf ermatteten Seele mit der Wärme seines tiefen Mitleids beistehen konnte.

– Denn ich fand den goldnen Becher nicht, aus dem zu trinken mich gelüstet hätte. –

Und nun – nun steht der Tod an der Schwelle und greift nach meinem Leben – ehe ich das Leben erkannte – sein flammendes Geheimnis soll sich mir nie enthüllen – dieser Zwiespalt bringt mich dem Wahnsinn nahe –

Ena erhob sich von dem Lager.

Wie getragen von der kreisenden Erregung ihres Blutes, trat sie hoch aufgerichtet vor den Priester hin.

Auch der Priester erhob sich.

Selbstvergessen, wie schlafwandelnd, mit starren, weit geöffneten Augen blickte Ena ihn an. Dann flog ein heißes Erschrecken über ihre Züge, als fühle sie plötzlich, dass sie nicht nur zum Priester gesprochen habe –

In jäher Erschütterung erkannte sie in diesem Augenblick den Mann in ihm. –

Eine jagende Blutwelle überstürzte das starre, bleiche Gesicht. Aus den Augen strömte ein wunderbares Licht, als seien die Schleusen der Seele bis in die tiefsten Quellen aufgebrochen. Die ganze Gestalt war gleichsam eine glühende Fackel, die, von unwiderstehlicher Leidenschaft entfacht, in keuscher Herrlichkeit aufloderte. –

Der Priester erbebte.

Regungslos standen ihre Blicke in den seinen. Auf Gnade und Ungnade seiner Antwort hingegeben.

Dem Meister der Sprache kamen keine Worte.

Wie ein Abgrund war es zwischen ihnen, in den ein Hauch des Mundes sie stürzen konnte.

Mit einem Ton konnte er diese fliehende Seele töten.

Mit einer Erbarmung ihr den Frieden geben.

Einen Augenblick war die Stille des Todes zwischen ihnen.

Ein Ringen und Beten durchdrang die starke, keusche Seele des Priesters.

Er breitete die Arme aus.

Und wie unter einer überreifen Qual zusammenbrechend, glitt das Weib in heißem Erschauern an seine Brust.

Da sprangen auch in ihm die verschütteten Brunnen der seligsten Lebensströme auf.

Der nie geküsste Mund des Weibes erblühte an seinen Lippen.

Alle kranke Sehnsucht rauschte in glühenden Garben auf. Tiefe Süßigkeit des Friedens breitete sich über das schöne Angesicht. Ein Lächeln von hinreißendem Zauber durchleuchtete die vollkommenen Züge, die, aller Erdenhaftigkeit entrückt, in der heiligen Reinheit ihrer göttlichen Entstammung strahlten.

Plötzlich flog ein jähes Erblassen über sie hin.

Ein kurzes, schweres Aufatmen.

Dann war das Leben erlöscht. – –

Mit zarten Händen ordnete der Priester alle äußere Unruhe an dem stillen, sanften Körper.

Sah noch einmal mit aufleuchtendem Blicke zu dem überirdisch lieblichen Lächeln, von dem das Antlitz in süßester Holdseligkeit übergossen war.

Dann ging er seinen Weg. –

Nahm noch mit allen Kräften die Gattesherrlichkeit der Wunderwelt des blauenden Südens in seine schönheitstrunkene Seele.

Jahre der bittersten Sehnsucht hatten hier endlich ihre Erfüllung gefunden.

Einige wenige kurze Tage war er mit dankender Demut untergetaucht in diesem brausenden Meere endloser Seligkeiten.

Und jetzt gab es nur eines für ihn. Jeder Schönheit bar musste von nun ab sein Leben sein.

Dem Gesetze, das er freien Willens selbst über sich verhängt, musste volles Genügen geschehen. Wenn auch im Letzten seiner selbst der Freispruch höchster Erkenntnis ihn jeder Schuld entband.

Seinem Beichtiger unterwarf er sein Verfehlen.

Und nahm stark und duldsam die Buße auf sich, um die er selbst gebeten.

In der unwirtsamen Gegend eines nordischen Berglandes, hoch über dem warmen Leben der Menschen, blieb er fürder für Jahre ausgeschlossen von jedem und allem, dessen sein Geist und sein Wille bedurfte.

Arm, leer und streng gingen seine Tage von ihm. Arm, leer und streng kamen seine Nächte zu ihm.

Aber im Allerheiligsten seines Wesens blieb ein seltsam keusches Licht, das von der Erinnerung an das süße, holde Lächeln der Erlösung des nie geküssten Mundes ausstrahlte. Und ob er gleich schuldig geworden, konnte er nie jemals auch nur die leiseste Reue empfinden.

An den harten Pfahl der Buße band er seine Schuld.

Sein Herz aber hielt Zwiesprache mit dem höchsten Erbarmer, dessen Antwort ihm aus dem keuschen Lächeln der Toten entsühnend in jene Tiefe gedrungen war, wo der letzte Richterspruch uns bindet oder löst.

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Zwischen zwei Fenstern

 


Elisabeth Dauthendey

Zwischen zwei Fenstern

Glührot leuchtete das Fenster. Leuchtete so stark und aufdringlich, dass die Blicke der vorübergehenden wie ein Magnet davon angezogen wurden.

Und da dem Fenster gegenüber ein sehr besuchter Wirtshausgarten lag, gab es der Augen genug, die immer wieder zu dem rotleuchtenden Fenster sich verloren, dessen glutroter Rahmen brennender Geranien den feinen Kopf eines Mädchens umlohte, das hier auf erhöhtem Sitz Tag um Tag das zarte Profil, umwuchert von einer lose flatternden Fülle tiefschwarzen Haares, den Vorübergehenden zukehrte.

Während ihre weißen und gut gepflegten Hände rastlos an der Arbeit waren, flog ab und zu immer wieder ein Blick ihrer dunklen Augen, die einen seltsam feuchtschimmernden Glanz ausstrahlten, zu dem Fensterspiegel hin, und wenn sie dann, wie es oft geschah, die Blicke der Vorübergehenden mit dem Ausdruck verblüffter Überraschung und Bewunderung auf sich gerichtet sah, huschte ihr eine feine Röte über die Wangen, und ein schnelles Lächeln des Triumphes umspielte den tiefroten Mund.

Bei aller Beweglichkeit ihres raschen Temperamentes achtete Madlon mit peinlicher Angst darauf, beim Aufstehen und Niedersitzen ihre Haltung genau so zu bewahren, dass man sie von draußen nur in einer ganz bestimmten, vor dem Spiegel lange eingeübten Pose sehen konnte, – denn sie wusste, dass es nur einer kleinen unvorsichtigen Wendung bedurfte, um all den Zauber, der von der etwas bizarren Linie ihres feinen Kopfes ausstrahlte, endgültig zu zerstören.

Denn gerade gegen diese eigenartige Schönheit des Kopfes war die Kontrastwirkung des verwachsenen und verschobenen Körpers doppelt stark und erschreckend. Und dieses plötzliche Erschrecken in den Augen, die eben noch feurig und lockend zu ihr hingesehen, dieses jähe Erlahmen und Abfallen des zu ihr hinflutenden Begehrens, diesem furchtbaren Augenblick tödlichster Qual, dem suchte sie immerfort auf raffiniertesten Umwegen zu entgehen. –

Tag um Tag sah man so die schöne Madlon in dem rotleuchtenden Rahmen dieses Fensters sitzen.

Tag um Tag flogen ihre behenden kleinen Hände durch allerlei bunten Plunder und schufen daraus die tausendundein reizenden Dinge, welche den Köpfen schöner Frauen jene letzte Vollendung geben, die eine gewisse Männerart kopf-und sinnlos ihnen zu Füßen zwingt.

Das war Madlons Element. Im Bunten wühlen. Über Farben herrschen, die schreiendsten Extreme zu einer unerhörten Harmonie bändigen. Jedes Werk ihrer fabelhaften Phantasie war ein Wagestück, und nur die tadellosesten Frauengesichter der Stadt konnten sich diese kecke Krönung ihrer Reize erlauben, ohne grotesk und beleidigend zu wirken.

Aber diese waren auch mit allen Fasern ihrer blühenden Eitelkeit an Madlons Künste gekettet, umschmeichelten und umgaukelten sie mit süßen Worten und Gaben und füllten ihr den schon recht bizarr ausgestatteten Raum ihrer Innenwelt mit einer Menge gefährlichen Überflüssigkeiten, für die sie ihre seelischen Spannungen weit über ihre Kräfte ausdehnen musste. So, getragen von einer schwer gesättigten Dunstwolke überhitzter Schmeichelei und umschwebt von den lauen, erschlaffenden Dunstwellen der weit über ihren Horizont reichenden Welt der eleganten Dame, lebte Madlon recht eigentlich ein fremdes Leben. Das Leben all dieser müßigen, leeren, von lauter Nichtigkeiten aufgeblähten Frauenseelen ließ seine tanzenden Schatten in ihrem Zimmer zurück, und all die kleinen Vertraulichkeiten, mit denen sie Madlon ansprühten und damit zugleich sich selbst angenehm entlasteten, nahmen dann in ihren einsamen Stunden Form und Farben an und durchwirkten und erfüllten Madlons arme, kleine, sehnsüchtige Seele bis zum Rande mit tausend schmerzlichen, unerfüllbaren Träumen, die ihr wie allzu schwerer Wein Herz und Nerven zu wirrem Rausch verknäulten.

Ein Potpourri von vielen Melodien schwirrte in ihrem Kopfe. Lauter Ansätze und Anfänge, die sich nie zu einer vollen Harmonie zusammenschlossen, Leitmotive, die, unausgebaut und unerlöst, frei in der Luft schwebten und zu unzähligen Wegen wiesen, die aber nirgendhin zu einem Ufer oder Ziele führten, so dass Madlon oft unter dem Andrang und der Überfülle der Gedanken und Bilder, die ihr aus all dem fremden Erleben zuströmten, ihr eigenes Leben seltsam überlastet und sich selbst merkwürdig unwirklich empfand.

Die sechs Tage der Woche hindurch kam ihr das nicht so voll zum Bewusstsein. Da war ihre Arbeit, an der sie eine glühende Freude hatte, da war der köstliche Augenblick der Vollendung einer der feinen Kostbarkeiten weiblichen Zierrates, jener Augenblick, in dem sie, trunken von Lust an sich selbst die schöpferische Beglückung des Künstlers genoss, dem es gelingt, das Gebilde seiner Ideen in ein plastisch Greifbares umzusetzen. Und zuletzt noch jener Moment, da sie in den Augen der andern die Raketen der Freude aussprühen sah, die besser als Worte ihr die heiße Entzückung über das Geschaffene verkündeten, die als letzter und süßester Tropfen in den Becher ihrer Lust fiel.

In diesem Dreitakt der seelischen Bewegung ging die Woche zu Ende. Die inneren Erregungen und fiebernden Kreuzungen ihres so vielfach an-und aufgeregten Gefühlslebens blieben gleichsam wie unter der Sordine zu dumpfem Halblaut gedämpft, im Hintergrunde ihres Empfindens, aus dem aber hin und wieder ein aufstürzender Ton hervorbrach, der wie fernes Wetterleuchten die Schwüle ihres Zustandes verriet. –

Aber der Sonntag. Und sonderlich zur Sommerzeit.

Da war alles losgelassen in ihr.

Da fuhr sie sechsspännig über die unermessliche Ebene ihrer wilden Wünsche und wirren Sehnsüchte. Alle Ekstasen einer sentimentalen Frömmigkeit und bacchantischen Lust zu allen Reizungen des Blutes überfielen sie an diesem Tage der Freiheit mit den Schauern dämonisch aufgewühlter Lust und schwermütiger Sehnsucht nach den von Weihrauch durchdufteten Gefilden überirdischer Beseligungen.

Zur Kirche ging sie dennoch nicht.

Zu stark empfand sie die Last, die aus den Empfindungswellen einer Menschenmenge sich fast zur Greifbarkeit zusammenballt, und ihre krankhaft sensible Reizbarkeit fühlte sich unerträglich beschwert durch die sich so jäh kreuzenden Urteile, die der auffallende Zwiespalt ihrer Erscheinung immerfort zur Auslösung brachte.

Aber ihre Frömmigkeit feierte glühende Feste im stillen Raume ihres Schlafkämmerleins, dessen Fenster nach der entgegengesetzten Seite des andern, rotumrankten, lag.

Dieses Fenster schaute in eine ganz andere Welt.

Die stille, breite Vorortstraße führte hier zu einer kleinen Wallfahrtskapelle, die hoch oben über sanften Rebenhügeln mit ihren Kuppeln und Kreuzen aufragte.

Eine hohe, graue Mauer ging ein Stück der Straße mit. Terrassenförmig stieg über ihr der Waldgarten des Klosters empor. Dunkles Efeugehänge wucherte in schweren Wellen über die Mauer herab. Die Luft war beladen mit den honigsüßen Düften der blühenden Bäume und Sträucher, deren Blattwerk vom Wellenspiel der Vogelstimmen leise durchbebt wurde.

An der einen Seite fiel die Mauer mit einigen Stufen zur Straße herab und ließ ein Steinrund frei, über dem eine Tuffsteingruppe den heiligen Ölberg darstellte, vor dem die Figur Christi in tiefem Gebet versunken auf den Knien lag. Das Gestein bildete zur Steinplatte hin eine dunkle Grotte, in der hinter rotglühendem Glase ein ewiges Licht brannte.

Hohe Akazien schatteten über diesen stillen Winkel und umhüteten die Andacht der Betenden, die hier zu allen Stunden vor dem Bilde des göttlichen Schmerzes ihr tiefes Erdenleid in das ewige Erbarmen zu bergen kamen. –

In diesen blühenden Winkel voll übersinnlicher Geheimnisse schaute Madlon aus dem andern Fenster ihres kleinen Heims, hier saß sie jeden Sonntag der Sommerzeit. Das ewige Licht schimmerte träumerisch. Die Glocken der frommen Stadt umläuteten ihre Seele. Der Gesang der betenden Wallfahrer nahm sie wie auf schweren Flügeln zu höheren Sphären, und der herbe Weihrauchduft löste alles Erdgebundene in ihr zu einer sanften, träumerischen Wehmut, in der alles Unreine ihrer vielfältig gemischten Natur von ihr abfiel und sie die köstlichen Augenblicke völliger Erlösung von sich selbst mit heißen Schauern der Andacht genoss. –

Mit der ganzen Kraft ihres überspannten Zustandes feierte sie an diesem Fenster alle Feste seligster Verschmelzungen mit dem Überirdischen und die Entzückungen der Hingabe an das Unbegreifbare des Übersinnlichen, die ihr Seele und Sinne bis zum Rande mit einer seltsam bittersüßen Wonne füllten.

Am liebsten wäre sie selbst mit wehenden Fahnen ihrer blühenden Frömmigkeit all den langsam zur Kapellenhöhe hinschleichenden Wallfahrern vorangeeilt, mit ihrer glockenreinen Stimme deren flügellahme Seelen emporreißend zu den glühenden Berauschungen ihres gotttrunkenen Glaubens. Aber die andere Seite ihres Wesens, die aus der subtilsten Empfindung eines tiefwurzelnden Schönheitsbedürfnisses heraus ihren Grundton hatte, aus dem ihr ihre Stärken und ihre Schwächen wuchsen, erlaubte ihr auch hier nicht, ihre Missgestalt den Augen der Menge preiszugeben, und so durchlebte sie die Ekstasen ihrer frommen Seele ebenso einsam wie die ihres sehnsuchtsschweren Blutes.

So kniete sie den sonntäglichen Vormittag in schier wollüstiger Demut an den Altären des Glaubens, von denen sie tiefgesättigt aufstand mit dem Gefühle, ohne jede Beschwerung über allen Abgründen der Erde hinzuschweben. –

Am Nachmittag aber schloss Madlon dieses Fenster. Sie ließ den Vorhang herunter, nahm leise und etwas verschämt den Schlüssel von der Gottestüre ihres Herzens, räumte Weihrauchduft und Gebetwonne, Andacht und Demut zart und behutsam in den Hintergrund ihrer Seele und ging mit festem Schritt zu dem zweiten Fenster, das auf der anderen Seite in eine andere Welt führte.

Hier webte und wogte ein gänzlich neues Bild. Hatte sie dort die Engelssüße des Meisters von Fiesole überschattet, brauste hier der tolle Rhythmus derben Überschwangs niederländischer Meister. Andere Register brachen lautere und härtere Töne in ihr auf, und das Wellenspiel ihres begehrlichen Blutes tanzte ungeduldig und sprühend über die straffgespannten Saiten ihrer Nerven.

Im Wirtshausgarten saß es dicht und voll von sonntagslustigen Menschen. Mädchen und Burschen nahe beieinander. Die Kellnerinnen drängten sich schwerbeladen zwischen Tische und Bänke durch. Der aufdringliche Geruch warmer Speisen und starker Getränke lag wie ein schwerer Brodem über dem Garten, strömte auf die Straße hinaus und mischte sich seltsam mit dem duftenden Sommerwind. Derbe Späße flogen hin und wider, Gläser klangen ineinander, und hier und da stiegen böse Worte und Gezänke wie Raketen in die linde, süße, blauende Luft.

Madlon saß am Fenster und las.

Ihre Damen versorgten sie mit Büchern, wahllos steckten sie ihr alles zu, was ihnen lästig geworden. Und Madlons rastlose Phantasie stürzte sich mit Heißhunger auf die gefährliche Beute.

Während des Lesens aber flogen ihre Augen immer wieder zur Straße und zum Garten hin. Das fortwährende Kommen und Gehen hatte etwas seltsam Aufregendes, und ihr Ohr lauschte gespannt auf das laute Tongewirr, das schmerzlich und erregend in ihre Gedanken hineinstieß. Sie fühlte es sofort, wenn ein besonders starker Blick zu ihr heraufzielte. Ein Augenaufschlag voll Triumph und Beglückung ging dann von ihr zu den fremden Augen hin, sie genoss eine Sekunde, die wie Frage und Antwort war, dann war wieder alles vorüber – aber es blieb ein köstlicher Augenblick voll Rausch und Wärme und wohliger Erregung.

So zwischen der dreifach aufreizenden Wirkung von lockenden Tönen, begehrlichen Blicken und den schattenhaft über sie hinhuschenden Gedanken des Buches, verlebte sie ihre Sonntagnachmittage in jener vibrierenden Atmosphäre spannender Unruhe, die sie bis zum Rande mit einer dauernden Erwartung anfüllte, für welche sie unklar und fieberhaft immerfort auf eine Erfüllung und Auslösung wartete, niemals wissend, ob sie ihr dort aus dem lauten Getöse des immer lauter werdenden Gartens, aus den lachenden Blicken der Vorübergehenden oder aus den aufpeitschenden Glutworten des Buches kommen würde.

Aber kommen musste etwas.

Das glaubte sie mit einer krankhaften Qual. Sie fühlte sich vergehen an dieser Qual. Die Kammern ihrer Seele waren zum Bersten voll von heftiger Lebenssehnsucht, von lockenden Gebilden ihrer übersteigerten Phantasie und dem wilden Begehren ihres rassigen Blutes, das durch das Kreuzfeuer des marternden Widerspruches zwischen ihrer auffallenden Schönheit und der furchtbaren Hemmung ihrer Auswirkung durch den so schmählich betrogenen Körper von einer besonderen Schärfe und fast perversen Bedrängnis durchsetzt war. –

Eines Sonntags war es. Ein sonnenschwüler Sommersonntagabend. Madlon saß wieder mit einem Buche am Fenster, das zum Wirtshausgarten schaute.

Es war spät geworden. Das Buch – es waren die Novellen Maupassants, die sich aus dem Boudoir einer ihrer vornehmen Damen zu ihr verirrt hatte – bebte leise in ihrer zitternden Hand. Der Wahnsinn der Leidenschaft, den dieser Dichter zu so ausschweifender Plastik zu gestalten weiß, umhüllte sie wie mit einer spröden Trockenheit, in der Nerven und Blut zu sprengender Spannung aufgebäumt waren.

Der schwüle Atem des Sommerabends drang zu ihr herein. Die derbe Lust im Garten füllte die Luft mit einer seltsam zügellos taumelnden Trunkenheit. Im Buche beugte sich eben ein fremder Mann zu einer fremden Frau, und beide gaben sich die kreisenden Träume ihres Blutes, ohne zu fragen, wer und woher. –

Da fühlte Madlon plötzlich den Strom eines Blickes auf sich gerichtet. Sie sah auf.

Gegenüber, an den Zaun des Gartens gelehnt, stand ein junger Mann. Gut gekleidet, schlank und feurig, und blickte zu ihr hin mit Augen, die mehr zu sagen hatten, als tausend Worte auszusprechen vermochten.

War das der Fremde, den sie eben in ihrem Buche erlebte, war sie die fremde Frau –

Wie unter einem Banne, fast willenlos und von einer seltsamen Kraft beherrscht, die von den Augen des Mannes zu ihr herströmte, erhob sich Madlon.

Sie ging wie schlafwandelnd zum Fenster, legte die Arme auf die Brüstung, neigte sich weit hinaus, den rufenden Augen entgegen. Einige Minuten blieben so die Blicke ineinander verkrampft. Ein wildes Hin und Her war zwischen ihnen. Ohne ein einziges Wort nahmen sich ihre Körper jäh und gewaltsam in Besitz.

Sekunden waren es nur, aber was bedeutet Zeit in der rasenden Rotation der Leidenschaft, in deren Schwingungen Ewigkeiten kreisen.

Es schien alles wie ein Traum.

Der Fremde riss sich mit einer zuckenden Bewegung aus seiner Versunkenheit, mit drei Schritten überquerte er die Straße.

Ein schneller Rhythmus erklang auf der Treppe. Die Türe öffnete sich, und wie der glutende Föhn Sturzbäche von den Bergen jagt, so stürzten die jagenden Wellen ihres Blutes zueinander.

Madlon fühlte die Aufgelöstheit aller schmerzhaft ertragenen Hemmungen in nebelhafter, wie in weiter Ferne von sich selbst erlebter Berauschung und Entzückung. Zugleich aber stand irgendwo klar und grausam das qualvolle Wissen, dass dieser eine, von langer Sehnsucht und wilden Träumen herbeigeborene Augenblick nie wieder zu ihr kommen würde. –

Als der Fremde gegangen war, blieb Madlon in trunkener Versunkenheit auf ihrem Lager. Stunde um Stunde verrann. Die Töne der Mitternachtsglocken glitten auf den Wellen der durchsichtigen, mondhellen Sommernacht zu ihr hin. Wie von einem purpurschweren Mantel leidvoller Süße umhüllt, bohrten sich ihre Gedanken stark wie ein loderndes Feuer in den einen kurzen, ewiglangen Augenblick, der alle schweigenden Brunnen des Lebens in ihr zu tanzender Seligkeit aufgestürmt hatte.

Ein Augenblick, der ihren Weg fortan begleiten würde als etwas Unverlierbares, etwas, das sie greifen und fassen und halten konnte als ihr Allereigenstes, der eingebrannt blieb in den Erinnerungen ihres Blutes, die sie wie zärtliche Kostbarkeiten im dunkelsten Schrein ihrer Seele hüten würde.

Gegen Morgen schlich sich Madlon leise vor das Haus. Am Ölberg, vor dem glühroten Licht der ewigen Lampe, sank sie schwer von glücksatter Ergriffenheit auf die Knie.

Ein trunkenes Beten und Stammeln und Danken war in ihr. Eine feine keusche Scham, die aber mit sanftem Lächeln sich selbst auslöschte. Und eine tiefe, stolze Dankbarkeit, dass jener köstliche Augenblick rein geblieben war von jeder demütigenden Erinnerung an die unheilbare Schwermut, mit der die Missgestalt ihres Körpers sie immerfort erfüllte.

Diesen einen Augenblick eines vollen Triumphes ausgekostet zu haben, ließ sie wie von einer fernen Höhe mit zärtlicher Nachsicht auf ihren armen Körper herabblicken, den ihre sieghafte Schönheit im Feuerspiel der Leidenschaft überwunden, gleichsam eine göttliche Ewigkeit entlang gänzlich vernichtet hatte.

Mittwoch, 5. Oktober 2022

Himmel und Erde

 


Elisabeth Dauthendey

Himmel und Erde

In der süßen blühenden Maienzeit ihres Lebens, da alle sprossenden Knospen der Seele zur Sonne lechzen, alle brennenden Träume um ein seltsam Fernes und Seliges kreisen und alle weitwache Sehnsucht nach dem lockenden Ungreifbaren sich aufreckt, war sie Nonne geworden.

Sie hatte die Insel der Seligen erreicht, nach der die Träume ihrer Nächte gegriffen hatten. Aus den Wirrnissen des Alltags kommend, zu denen sie nie eine rechte Stellung hatte finden können, war es nun wie eine Erlösung, der großen Stille, dem heiligen Schweigen gegenüberzustehen. In der geheimnisbeladenen Einsamkeit nur den einen Weg vor sich zu wissen, der zu den goldnen Altären des Gebetes und zu den schmerzlich seligen Höhen der Opferung führte.

Sich opfern und hergeben. Wund sein an sich selbst, das Herz schwer von Demut und Liebe zu Einem, der über allem Irdischen jene weiten Tore öffnete, die in eine Welt der seltsamen Schauer, Erschütterungen und Verzückungen führten – diese heimliche lechzende Sehnsucht ihrer keuschen Seele, die, noch unbewußt der Macht ihres blühenden Körpers, sich ihr eigenes Reich baute und ahnungslos über den Gefilden seiner erdhaft gerichteten Strahlungen zu der dinglosen Welt übersinnlicher Ekstasen aufflog. Diese heimliche lechzende Sehnsucht ward ihr nun erfüllt.

Schwester Serapha.

Wuchsen ihr nicht Flügel aus diesem himmelhoch tragenden Namen. Ward nicht ihr Leben plötzlich nur noch ein Schweben. Keine Erde mehr unter ihren Füßen. Keine Finsternis mehr um sie her. Tag und Nacht, ein strahlendes Lichtopfer an den goldnen Altären ewiger Anbetung!

Alles wurde leicht in ihr. Die schwersten Pflichten ihres neuen Amtes trug sie lächelnden Herzens wie duftende Rosenketten. Ihre Seele glühte purpurrot wie das ewige Licht vor den heiligen Altären. –

Die älteren Nonnen sahen erstaunt in die leuchtende Pracht dieser gottblühenden Magd.

Einige, schon etwas Ermüdete, entzündeten sich neu an der brünstigen Fackel dieser weihrauchschweren Andacht.

Noch Müdere blickten scheu und schuldig auf sie hin. Jene aber, die am Ende des Opferweges gingen, hatten ein leises, welkes Lächeln, das wie ein Schatten über die verstummten Lippen huschte.

Die Seniorin des Klosters aber sah mit seltsam strengen Augen auf diese Gotteslilie und schüttelte oftmals das greise Haupt und seufzte.

Schwester Serapha merkte von all dem nichts.

Konnte man jemals müde werden an diesem schwingenden Beben der Seele, diesem jubelnden Singen des Herzens, dieser schwellenden Betäubung des ganzen Wesens? –

Und einer blieb wahrhaft entzückt vor diesem lieblichen Wunder.

Der alte Priester der Klausur.

Seine frommen Augen berauschten sich an dieser steil zum Himmel aufglühenden Gottesflamme. Wenn auch sein allzu wissendes Herz ein Weh dabei empfand.

Wie manche schon hatte er in solch ekstatischer Gotteswonne über diese heilige Schwelle treten sehen, und was war daraus geworden? Die bittre Antwort lag täglich vor ihm ausgebreitet auf den müden, leeren, ausgebrannten Gesichtern ringsum, denen er immer wieder neue Kraft zu spenden und immer wieder die gleichen welken Sünden zu vergeben hatte.

Trotzdem aber erquickte es ihn immer von neuem, wenn eine frische, reine Kerze auf dem Altar zum Himmel lohte. –

Denn verloren war solch reines Gottesglühen nie, es gab der Jungfrauenseele einen überirdischen Glanz und Schimmer, unverlierbaren Reichtum, – Seligkeiten ohnegleichen – wenn –. Ja wenn.

Auch dieser würde er das erlösende Wort sagen, das er all jenen Ermüdeten gesagt hatte, wenn ihre Stunde gekommen wäre. Würde diese die Kraft haben, daran zu einem neuen Leben zu erwachen, wenn die Durchgangswehen ihrer, aus jähen Gluten empfangenen Seele von ihr abfielen und sie das wahre Antlitz ihrer selbst erkannte?

Das wahre Antlitz ihrer selbst, das, plötzlich schleierlos geworden, den Blick zur blühenden Erde senkte und wissend ward um die missverstandenen Flammen ihres erdgebundenen Blutes. –

Wie oftmals schon hatte er dies Wort gesagt.

Die Gebundene lösen wollen von dem Eide gegen sich selbst, der, nun eine Lüge und Last geworden, an den feinsten Dingen ihres Wesens zehrte und seine Wurzeln zerstörte, seit die Ekstasen des jungen schäumenden Blutes an den antwortlosen Ufern des allzu fernen Jenseits verrauscht waren. Aber keine der Lastbeladenen hatte mehr die Kraft gefunden, sich der schmerzhaften Bürde zu entladen. Keine den schwingenden Mut in sich entzündet, an dem sich tausend neue Leben hätten entflammen können.

In der dumpfen Müde ausgelebter Illusionen, in der grauen Dämmerung verlöschter Himmelslichter wollten sie lieber weiterschleichen all die altgewordene Zeit hindurch, bis zur Schwelle des letzten Schweigens, so ganz war alle Lebensspannung in ihnen zusammengesunken, so ganz war alles zu Asche und Schutt erloschen, was im Übermaß des gotttrunkenen Rausches ihrer blühenden Jugend sie in taumelnden Entzückungen zu dieser heiligen Schwelle getrieben.

Würde auch diese so verlöschend am Boden liegen?

Er wartete und lauschte auf ihre Stunde.

Und ihre Stunde kam.

Plötzlich lag es wie ein dichter Nebel über ihrer glühenden Andacht. Dehnte sich eine weite Leere um sie her. Die blühenden Gottesgärten waren verschwunden, und ihre Seele lag nackt und hilflos im brennenden Sande einer schreckvollen Wüste. Ihre Sinne hatten den Flug zur Höhe verloren und empfanden nun in jähem Umschwung die erdhafte Nüchternheit der Dinge umher. Alle Ströme der Gnade waren versiegt, die himmlischen Heerscharen, mit denen sie bisher so nahe und innige Zwiesprache gehalten, blieben der Erde entrückt, in die unfassbare Ferne der Ewigkeit zurückgenommen, aus welcher auch das von wildester Not durchbebte Gebet sie nicht mehr heranzuzwingen vermochte.

Verstört und verwirrt starrte die junge Nonne in dieses unentwirrbare Chaos, an das sich ihr ganzes Wesen verloren und das sie in die Grenzenlosigkeit des Nichts auflösen zu wollen schien.

Mit der letzten Kraft ihrer entgötterten Seele hüllte sie sich von Kopf bis zu Füßen in das Dornengewand der Reue und Buße und, von Demut und Zerknirschung bis in die letzten Fasern zermürbt, warf sie sich dem Priester zu Füßen.

Dieser, im milden Leuchten seiner wissenden Güte, legte ihr die segnenden Hände auf die brennenden Wundmale, und mit der stillen Weisheit der Liebe griff er in die geheimnisvolle Tiefe ihres Leides, da wo die Wurzeln ihrer Kräfte verknotet und verdorrt in ihrem krank gewordenen Boden ruhten. Und seine Stimme, beladen mit allen Gnaden der ewigen Wahrheit, durchdrang die erschütterte Seele und richtete langsam Wort um Wort ihre zerstörte Schönheit wieder auf. Und leise hob ein neues Blühen an. Tag um Tag weitete sich dieses Blühen und bedeckte den dürren Sand der Wüste allmählich mit einer neuen fremden Pracht, und in einer seltsam feierlichen Stunde schlug die junge Nonne die Augen auf und sah die Erde von jener Göttlichkeit der Schönheit und Seligkeit bedeckt, die sie bislang hoch über ihr in weiten Fernen gesucht hatte.

– Siehe – sagte der Priester – gleichwie der leuchtende Regenbogen für einen seligen Augenblick den Himmel mit der Erde bindet –

Siehe – so bindet die Liebe von Mann und Weib den Himmel ihrer Herzen an die Erde ihres Blutes, dass sie sich selbst und Gott erkennen.

Lass deine Kräfte neu erblühen und wende dich zum Leben, heilige die Erde in dir durch die Liebe, so wird der Himmel zu dir kommen und in dir sein, und du brauchst ihn nicht über den Wolken zu suchen. Des Himmels Gnadenfülle zu ertragen, geht den Sterblichen meist über ihre Kraft, und nur ganz selten ist ein Begnadeter dieser seligen Last gewachsen.

Du aber brauchst Erde unter deinen Füßen –

Geh, mein Kind, ich entbinde dich deines Gelübdes –

Möge das Weh der Erde dir leicht sein. –

Und die Nonne Serapha fand die Kraft, ihren heiligen Namen am Altar wieder in Gottes Güte zurückzugeben.

Ihre Füße fanden allmählich die festen erdruhenden Schritte, ihre Hände den sichern Griff zu den Dingen des Alltags, ihre Augen erblühten im tiefen Erschauen der unerschöpflichen Schönheitsfülle, die im Diesseits der Welt wie in einem Spiegelbilde die Herrlichkeit des Jenseits widerstrahlt und durch ihre Nähe und Greifbarkeit dem Menschen gleichsam ein Stück der Gottheit fühlbar in die Hände gibt.

Sie ging einher, ein Mensch unter Menschen. Alles Flammende in ihr gereinigt und durchseelt von der Lauterkeit des keuschen Liebesdienstes zu den Füßen der Gottheit. Und als sie an dem goldenen Becher der Lust, den die Minne des Lebens dem schwer beladenen Pilger der Erde zu Labsal und Aufschwung zu reichen hat – sich von seligsten Berauschungen erdenthoben zu den Gefilden paradiesischer Entzückungen fortgerissen fühlte, blieb ihr, umhüllt vom flammenden Purpurmantel der glühenden Mannesleidenschaft, in der letzten ruhenden Stille ihres Wesens die reine, schattende Kühle der gottdurchwehten Andacht, dass sie wie ein kristallner Kelch den glühenden Odem des Lebens in sich aufnehmen konnte, ohne jede Versehrung der heiligen Schwelle, an der Mensch und Tier sich einen kurzen gefährlichen Augenblick begegnen, jener kurze, von hinreißenden Seligkeiten beladene, von tödlichen Entscheidungen umflammte Augenblick, der Mann und Weib zu allen Himmeln und Höhen tragen und halten kann – oder sie für immer an die giftschwangeren Niederungen des Nur-Erdenhaften bindet. –

Und als das Kindlein geboren war, blühte Frau Marias Angesicht in jener unirdischen Menschenschöne, wie sie die Meister langer Zeiten in ihren Bildern in kniender Ehrfurcht vor der rührenden Keusche des Mysteriums des Weibes über die Erde hingestreut haben. Des uralten ewig jungen Mysteriums des Muttertums, in dem Himmel und Erde sich immer wieder neu verbinden, um immer wieder das süßeste aller Wunder – das Kind, zu erzeugen.

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