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Freitag, 15. September 2023

Das Schafott

 

Maurice Leblanc

Das Schafott

 Der Mann verließ die Couch, auf der er lag, nahm einen Kerzenhalter und stellte sich vor den Spiegel. Dort schob er die Kleidung beiseite, die seine Brust verdeckte, und suchte mit dem Finger nach der Stelle, an der sein Herz schlug. Er spürte, dass es in unregelmäßigen Schüben hüpfte. Er nahm eine Stecknadel und ritzte sich die Haut an der Stelle auf, wo er den Zeigefinger hingelegt hatte.

Dann ging er zum Fenster, öffnete es und ging langsam die Holzgalerie entlang, die die Fassade seiner Hütte säumte.

Der Regen hatte aufgehört. Es war eine milde und ruhige Nacht. Aus dem Lorbeer- und Gummibaumbeet unter dem Balkon und dem großen Rasen mit den dunklen Beeten stieg ein nasser Geruch auf. Tropfen fielen mit einem kühlen, stetigen Geräusch von Blatt zu Blatt.

Er lehnte sich an die Balustrade. Und er atmete die starke Luft ein, sog mit seiner ganzen Brust, mit all seinen Sinnen den Zauber dieser Sommernacht ein.

Ein Verlangen kam in ihm auf. Er holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche, dann eine Zigarette und zündete sie an. Dann machte er ganz leise:

- Die letzte!

Er fand sie wohl gut, denn er rauchte sie in langsamen Zügen und blickte zu den Sternen hinauf, die durch die zerklüfteten Wolken erwachten. Er erkannte einen von ihnen, Vega. Was für eine Erinnerung! Er liebte damals und jeden Abend, während der schmerzhaften Trennungen, vereinte er zur selben Minute seinen Blick auf den ausgewählten Stern mit dem Blick der Geliebten.

Sein Leben entfaltete sich.

Aber als die Zigarette ausgedrückt war, schüttelte er seinen Schlummer ab und sagte mit hoher Stimme:

- Kommen Sie, Sie müssen.

Er ging nach Hause, setzte sich vor den Tisch, nahm eine Feder und Papier. Was würde er schreiben? Den Grund für seinen Selbstmord? Wen würde das interessieren? Wusste er sie überhaupt selbst? Er zuckte mit den Schultern: Wozu die Mühe?

Schnell stand er auf, öffnete seinen Sekretär, holte eine Pistole heraus, löschte die Kerze und drückte den Abzug.

Der Körper fiel zwischen Bett und Tisch. Einige Krämpfe bewegten ihn. Das war alles.

Die Zeit verging. Es herrschte Stille, die unendlich schwere Stille, die Zimmer erfüllt, in denen das Leben gelebt hat, als ob sich der Tod von der Leiche, die sich in einer Ecke verdreht hatte, auf die Dinge übertrüge und das Knarren des Holzes, das Seufzen der Vorhänge und das Klagen der Möbel betäubte.

 

Plötzlich knarrte es wie beim Reißen eines Stoffes. Ein Stück Glas wurde herausgerissen, und eine Hand, die durch den Spalt griff, drehte vorsichtig den Espagnolette und schob das Fenster auf. Eine Person in einem Kittel kam heraus. Er trug eine Laterne.

Freitag, 8. September 2023

Herr und Frau Jumelin

 


Maurice Leblanc

Herr und Frau Jumelin

 In einem kleinen, abgelegenen Haus zwischen Duclair und dem Château du Taillis erhängte sich ein Mann. Er hinterließ dieses Manuskript:

 Ich bringe mich um. Es gibt Erinnerungen, die man nicht ertragen kann. Sie verfolgen dich. Sie zwingen dich zu sterben. Man möchte sie zerquetschen, sie richten sich auf, noch zwingender. Sie sind das Zentrum unseres Lebens, der Dreh- und Angelpunkt, um den sich der Tanz unserer Ideen dreht, das ständige Motiv unseres Verhaltens. Die Funktion des Gehirns ist nicht mehr das Denken, sondern das Erinnern. Wir sind keine willens- und urteilsfähigen Wesen mehr: Wir sind ein Gedächtnis.

So erinnere ich mich. Eine einzige Erinnerung fordert alle meine geistigen und körperlichen Fähigkeiten heraus. Meine Augen sehen nichts anderes, meine Ohren hören nichts anderes als ihre Worte, der Akt vollzieht sich vor meinen Augen. Mein Gott, wie gut wäre es, wenn ich vergessen könnte! Aber es gibt kein wohltuendes Wasser, das die Vergangenheit auslöschen und meine Seele von den abscheulichen Visionen, mit denen sie behaftet ist, reinigen würde. Also muss ich sterben.

Wenn Sie meine Geschichte gelesen haben, werden Sie mir zustimmen.

 

Freitag, 1. September 2023

Hundert Sous

 


 Maurice Leblanc

Hundert Sous

 Mein erster Schreiber führte einen grauhaarigen Priester ein, der ein gewöhnliches Aussehen und ein sympathisches Gesicht hatte. Er trug trotz der Kälte nur eine Soutane, die so abgenutzt war und so glänzte, dass die Flammen des Feuers darin in undeutlichen Spiegelungen tanzten. Die wenigen Haare auf seinem Dreispitz waren von einem schmutzigen Rot. In der Hand trug er einen Gobelinbeutel.

Ich bat ihn, sich zu setzen und mir den Zweck seines Besuchs zu schildern. Er setzte sich und sagte mit großer, schüchterner Stimme zu mir:

- Ich bin der Abbé Gallois ... Gallois ...

Er zögerte, als ob dieser Name mir ein Geheimnis hätte verraten sollen. Und tatsächlich erinnerte ich mich an eine Geschichte über einen verschuldeten Priester, einen Skandal, den die Lokalzeitungen ausgenutzt hatten. Er fuhr fort:

- Jetzt diene ich der Pfarrei La Haie-Aubrée, einer sehr armen Gemeinde, sehr arm" - er seufzte und blickte zur Decke auf - "und ich habe hier eine Summe, die ich Ihnen anvertrauen möchte ...

Verblüfft über diese Schlussfolgerung antwortete ich:

- Das ist ganz einfach, ich stelle Ihnen eine Quittung aus.

Er unterbrach mich abrupt:

- Kann ich von diesem Betrag nach Bedarf etwas abzweigen?

- Natürlich", sagte ich.

Er schien zufrieden, öffnete seine Tasche und zog aus einer alten Brieftasche vier Hundertfrankenscheine und fünf Goldmünzen heraus. Dann holte er einen Leinenbeutel hervor und leerte den Inhalt auf den Tisch: dreihundert Fünf-Franc-Stücke.

Diese Anhäufung von weißem Geld überraschte mich. Aber er sammelte schon seine Sachen ein und begrüßte mich. Ich begleitete ihn.

Nach acht Wochen war von den zweitausend Francs nichts mehr übrig. Jeden Samstag kam er herbei, verlangte zehn oder fünfzehn Louis, zählte sie und murmelte mit trauriger Miene:

- Wie gut das funktioniert, mein Gott, mein Gott!

Freitag, 25. August 2023

Der Haï


Maurice Leblanc

Der Haï

 Um sein kleines Einkommen zu verzehren, wählte François Herledent die Gemeinde Yainville, weil sie "nicht viel hergibt". Seinem Wunsch, "endlich etwas zu sein", bot er damit eine Chance auf Verwirklichung.

Sein ganzes Leben lang hatte François Herdelent unter dem bitteren Schmerz gelitten, unbemerkt zu bleiben. Zwischen ihm und dem Glück stand ein unüberwindbares Hindernis.

In der Schule wurde er von seinen Mitschülern vernachlässigt. Er hielt sich aus ihren Spielen, Verschwörungen und ihrem Lachen heraus. Im Unterricht kümmerten sich seine Lehrer nicht um ihn. Zu Hause wurde er von seinen Eltern vergessen.

Als er aus dem Internat kam, wurde er als Lehrling zu einem Eisenwarenhändler geschickt. Er tat dort nichts. Der Chef merkte nichts von seiner Anwesenheit.

Sein Vater und seine Mutter starben. Man versäumte es, ihn an ihr Sterbebett zu rufen. Er zählte so wenig!

Mit ein paar geerbten Münzen erwarb er einen Eisenwarenladen. Aber sein Angestellter hatte alle Macht an sich gerissen. Die Kunden wandten sich nur an den Untergebenen. Der Meister trat in den Hintergrund.

Er heiratete und wurde betrogen, was - was traurig ist - seine Bedeutung nicht erhöhte. Seine Frau nahm nicht mehr Rücksicht auf ihn, und die Liebhaber liebten ihn nicht, sondern ließen sich nieder, bestellten, tranken seinen Wein, streichelten seine Frau und dachten nicht einmal daran, dass sie ihm zumindest etwas Dankbarkeit schuldeten.

Und Frauen, Rivalen, Kunden, Eltern, Lehrer und Mitschüler handelten keineswegs voreingenommen, aus Abneigung oder aufgrund eines bösartigen Plans. Nein. Der Grund für das unveränderliche Verhalten gegenüber François lag in François selbst. Er erzwang Gleichgültigkeit.

Er besaß ein unscheinbares Gesicht, ohne die Seltsamkeit einer zu starken Nase oder den Charme einer wohlgeformten Nase. Seine Bewegungen waren nicht sehr lebhaft und auch nicht sehr langsam. Er war nicht geistreich, aber auch nicht zu dumm. Er fiel weder durch ein Übermaß an Fett noch durch ein Übermaß an Dünnheit auf. Mit einem Wort, die Gesamtheit seiner moralischen und physischen Persönlichkeit verlangte, dass man ihn wie einen nutzlosen und wertlosen Gegenstand ignorierte. Er war ein Nichts. Und das wusste er.

Oft wurde er von inneren Aufständen erschüttert. Er wollte "sich zeigen". Er versuchte, "etwas zu sein", gut, schlecht, frech, barmherzig, zornig. Man schaute ihn an, dann drehte man den Kopf abwesend weg. Und dann fiel er wieder in sein Schweigen, in sein Nichts zurück.

Seine Frau starb. Bei der Beerdigung stand er im Mittelpunkt. Die Leute bemitleideten ihn. Er übertrieb seinen Kummer, um das Mitgefühl zu steigern. Auf dem Friedhof täuschte er eine Ohnmacht vor. Man umringte ihn. Dort hatte er ein paar schöne Minuten.

Freitag, 18. August 2023

Als Fensterputzer getarnt

 


Es war ein sonniger Tag im Herzen der Stadt. Menschen eilten auf den Straßen entlang und genossen das schöne Wetter, während sie ihre täglichen Erledigungen machten. Inmitten all des Trubels befand sich ein kleines Juweliergeschäft, das von den Passanten oft übersehen wurde.

In dem Geschäft arbeitete eine Frau namens Maria. Sie hatte das Geschäft vor einigen Jahren von ihrem Vater übernommen und arbeitete hart, um es zu einem Erfolg zu machen. Sie war stolz auf die Auslage, die sie jeden Morgen liebevoll gestaltete und darauf, dass ihre Kunden immer zufrieden waren.

An diesem Tag hatte sie jedoch keine Ahnung, dass eine Gruppe von Einbrechern in der Nähe war, die genau darauf aus waren, ihre wertvolle Auslage zu stehlen.

Die Einbrecher hatten sich gut vorbereitet. Sie hatten sich als Fensterputzer verkleidet und waren mit einem Staubsauger ausgerüstet. Sie parkten ihren Lieferwagen um die Ecke, in einer Seitenstraße und warteten geduldig auf den richtigen Moment.

Als die Mittagspause begann und das Geschäft leer war, machten sich die Einbrecher ans Werk. Sie holten ihr Bohrgerät und bohrten ein kleines Loch in die Schaufensterscheibe des Juweliergeschäfts. Dann schoben sie den Staubsauger durch das Loch und begannen, die gesamte Auslage aufzusaugen. Uhren, Halsketten und Armbänder im versicherten Wert von mehreren zehntausend Euro wechselten den Besitzer.

Maria kehrte nach ihrer Pause zurück und konnte ihren Augen kaum glauben. Die Auslage war leer.

Samstag, 12. August 2023

Im Pfarrhaus

 


Im Pfarrhaus.

Eine stille Geschichte.

  von Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

 

»Auch dieses hat seine Geschichte. Auch dieses.«

Der alte Pastor sagte es mit einem halb wehmütigen, halb frohseligen Lächeln, und über seine hellen, kinderguten Augen legte es sich wie der feine, blaue Schleier einer lieben Erinnerung.

Dann, sich die erloschene Cigarette wieder über der Lampe anzündend, fuhr er fort: »Es haben mich schon viele gefragt, warum ich statt der Pfeife, die ja mit meinem Stande unzertrennlich verbunden scheint, an Sonntagen immer nur Cigaretten rauche, trotzdem es mir nicht gesund ist, und noch dazu aus so unbeholfenen Rohrspitzen. Ich will es Ihnen erzählen, wenn Sie vielleicht auch über die Thorheit eines altmodischen Mannes lächeln werden. Haben doch so viele irgend eine Gewohnheit, die anderen thöricht erscheint, die sie aber hegen und pflegen, weil sie ihnen hilft, ein liebes Gedenken wachzuhalten … Schrauben Sie, bitte, die Lampe etwas niedriger, lieber Freund!«

Der Kaplan, der dem alten Herrn gegenüber sass, gehorchte. Ein halbes, gedämpftes Licht lag nun über den hier und da wurmstichigen, zwei oder drei Generationen alten Möbeln und den vergilbten Büchern und Schriften, die in grosser Anzahl, aber in bemerkbarer Unordnung darauf lagen. Die grossen Holzscheite in dem eisernen Ofen knisterten mitunter, und die Flamme und das erhitzte Petroleum surrten vernehmlich.

»Es sind jetzt gegen dreissig Jahre her, dass mich mein seliger Vorgänger in dieser Pfarre als Kaplan zu sich berief. Ich war damals wohl so alt wie Sie, fünfundzwanzig. Von vielen Seiten wurde ich noch gedrängt, erst, wie die meisten meiner Kommilitonen, nach Deutschland zu gehen, nach Leipzig oder nach Rostock, wo wir Ungarn grössere Stipendien geniessen, um dort meine theologischen Studien zu vervollständigen. Aber mir war das Studentenleben sauer geworden. Arm wie ich war, hatte ich mir durch Stundengeben fast jeden Bissen Brot selber verdienen müssen. Ich nahm also an, und so kam ich in diese Gemeinde. Das damalige Pfarrhaus war noch nicht so vornehm wie dieses. Es stand auf demselben Platze, aber das Dach war mit Stroh gedeckt, die Wände waren viel niedriger und die Öfen rauchten. Mitunter froren wir im Winter, aber es hat mir doch leid gethan, als es abgerissen wurde. In dem alten bin ich jung und glücklich gewesen, in das neue bin ich schon mit grauen Haaren eingezogen, vereinsamt bis auf meine Tochter. Meine selige Frau hat es nicht mehr erlebt … Mit dem geistlichen Herrn kam ich in ein so freundschaftliches Verhältnis, dass ich mich ihm gegenüber bald mehr als Sohn des Hauses, denn als sein Kaplan fühlte. Weniger gut gelang mir dies bei seiner Tochter. Er war Witwer und sie, die ebenso alt wie unsere Böske sein mochte, also neunzehn Jahr, führte ihm die Wirtschaft. Schüchtern und ohne Erfahrung im Verkehr mit Damen, ging ich ihr beinahe aus dem Wege, so dass wir uns eigentlich nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten sahen.

Wenn ich nach beendetem Nachtmahl mit meinem seligen Vorgänger, wie es gewöhnlich war, noch ein Stündchen am Tische sitzen blieb, um über Weltläufte oder Gemeindeangelegenheiten zu plaudern, sass sie immer ganz still am anderen Ende der Tafel, mit einer Häkelei beschäftigt oder in alten Jahrgängen einer illustrierten Zeitschrift blätternd. Mitunter glaubte ich dann zu bemerken, dass sie hier und da das feine Köpfchen hob und mich verstohlen von der Seite ansah. Es hätte aber auch eine Täuschung sein können, und so gab ich denn einige Zeit hindurch acht, bis es mir gelang, ihre Augen mehrmals auf frischer That zu ertappen. Wenngleich ich mir nichts dabei dachte, beunruhigte mich das doch, und ich musste mir Mühe geben, mit meinen Gedanken bei dem Thema des Gesprächs zu bleiben, das der geistliche Herr mit mir führte.

Freitag, 4. August 2023

In der Anstalt

 


In der Anstalt.

Ein Bild aus dem Leben.

von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Nicht weit von einer westdeutschen Industriestadt liegt eine grössere Zahl schmucklos, aber gefällig gebauter Häuser. Durch grössere Entfernungen voneinander getrennt, verstreuen sie sich über ein weites, hügeliges Gelände, das hier und da mit Wald bestanden ist. Grösstenteils werden sie von Kranken bewohnt, denen die kräftige Luft und der tiefe Frieden wohlthut.

In einem der Häuser jedoch werden keine körperlich Leidenden aufgenommen. Dies ist das Haus, das am weitesten der Stadt zugeschoben und durch ein eisernes Gitterwerk von der Landstrasse getrennt ist. Es ist die Domäne derer, die Schiffbruch im Leben gelitten haben, das Asyl der Gestrandeten.

Es beherbergt nur Leute aus besseren Lebensschichten. In der Überzahl sind die Offiziere a. D. Etliche Geistliche sind auch darunter, mitunter auch ein Schriftsteller oder ein Redakteur.

Mannigfaltig ist ihre Schuld und ihr Schicksal; mannigfaltig sind die Wege, die sie hierhergeführt; allen gemeinsam aber ist der dumpfe Gram, der ihre Tage verbittert und der sie allmählich stumpf macht gegen das Aussenleben, der allmählich auch ihre Sehnsucht, wieder hinauszufliegen, erdrückt, und erst mit dieser Sehnsucht matter und matter wird.

Die meisten der Herren sind schon längere Zeit da. Man unterscheidet sie leicht von den übrigen Bewohnern der Anstalt. Sie tragen einen Zug schmerzlicher Resignation im Gesicht, und ihre Augen blicken auf ein vergangenes Leben.

Hier und da gemahnen noch Gang und Gebärde an die frühere gesellschaftliche Stellung. Sonst kommt sie selten zum Vorschein. Besonders nicht in der Kleidung. Wenn beim Essen ein Tropfen Suppe oder Bratensaft auf den Rock fällt – nun, so schadet das nichts. Gereinigt wird er deswegen doch nicht. Für wen auch? Untereinander hat man sich gegenseitig nichts vorzuwerfen und ausser der alten Dame, welche die Wirtschaft führt, und ihren beiden Dienstmädchen ist kein weibliches Wesen für sie vorhanden. In die Stadt zu gehen ist ihnen auch nicht erlaubt, weil es zum Teil der Alkohol war, der sie hierhergebracht.

Da ist der Hauptmann und Oberamtmann a. D. von Wegeler, der ein tüchtiger, pflichttreuer Beamter war, bis ihm sein junges Weib im ersten Kindbett starb. Von da ab hatte er keinen Sinn mehr für seine Akten gehabt und vom frühen Morgen an bei der Flasche gesessen. Man schonte ihn so lange als möglich; eines Tages aber war er schwer betrunken an das offene Grab eines alten Soldaten getreten, um ihm nach dem Geistlichen als Vorsitzender des Kriegervereins ebenfalls einige Worte nachzurufen. Hin und her taumelnd hatte er einige unzusammenhängende Sätze hervorgestossen, bis er endlich gänzlich das Gleichgewicht verloren hatte und auf den blumengeschmückten Sarg gefallen war. Es hatte einen dumpfen Schall gegeben, der oben einen entrüsteten Widerhall fand und laut genug war, um bis zum Minister zu dringen. Er hat nachdem nicht mehr amtiert und trug sein Weh in die stillen Räume der Anstalt. Vom Trunk liess er bald; auch die Wunden, die ihm der Tod seiner Frau geschlagen, vernarbten in der alles heilenden Zeit. Dafür überkam ihn aber die Energielosigkeit eines Lebens, dem jeder Sporn fehlt, die Resignation eines Lebens, das sich selber verloren giebt.

Sein Zimmergenosse, ein kleiner, pommerscher Pastor, der wie eine Karikatur aus dem vorigen Jahrhundert aussieht und eine verbitterte, boshafte Zunge hat, bedurfte keines so jähen Anstosses, um ein Trinker zu werden. Fünfundzwanzig Jahre in einem elenden Dorfe, ganz einsam, ohne Verkehr, ohne Bücher und geistige Anregung hatten ihn ganz allmählich dazu gemacht. Die Bauern hatten oft Gelegenheit gehabt, einen Betrunkenen auf der Kanzel zu sehen, bis sich das hohe Konsistorium hineinmischte, und er abgesetzt wurde.

Dann wohnt ein junger, bildhübscher Mann dort, der kurz nach seiner Beförderung zum Oberleutnant in später Nacht einst angerauscht und durch einen Wortwechsel erregt aus dem Kreise seiner Kameraden geschieden und auf dem Heimwege mit der brennenden Cigarre einem Pulverschuppen zu nahe gekommen war. Der Posten hatte ihn auf die bestehenden Vorschriften aufmerksam gemacht, vielleicht in einem ungebührlichen Ton. Genug, der arme, betrunkene Leutnant hatte ihn mit der flachen Klinge über das Gesicht geschlagen. Verwundet hatte er ihn nicht, aber die Militärgesetze lassen nicht mit sich spassen. Er bekam den schlichten Abschied, und da er zu keinem anderen Berufe vorgebildet war, landete auch er hier.

Ach, es sind seltsame Schicksale, die sich hier zusammenfinden! …

In dumpfem Gram, in stumpfer Resignation schleppen sie ihre Tage dahin. Die Erinnerung, in der sie überhaupt nur leben, das Fehlen des weiblichen Elementes, das schon manchen zu neuem Aufstieg trieb, das Fehlen jeglicher Berührung mit den brausenden Stürmen und Strömen der Freiheit, das lässt sie ganz verkümmern.

Einmal schlug aber doch eine Welle der Aussenwelt auch in ihren Frieden.

Eines Tages blieb Herr von Wegeler, der als erster der Herren gegen Mittag das Speisezimmer betrat, überrascht in dem Thürrahmen stehen. Auf seinem dicken, aber bleichen Gesicht spiegelte sich ein fassungsloses Erstaunen, das sich mehr oder minder auch in den Zügen der nachfolgenden ausdrückte.

Neben der Wirtschafterin, einer Pastorenwitwe, stand eine junge, hohe Mädchengestalt. Das Haar lag ihr in schweren, goldenen Flechten auf dem Haupte, und ihre Augen waren schön und klug. Sie hatte das Aussehen einer vornehmen Dame, wenn sie auch nur eine Erzieherin war, die ihre Tante besuchte.

Nach der Gesamtvorstellung, die von seiten des Hausvaters, eines weissbärtigen Greises, erfolgte, schien sich die allgemeine Erregung etwas zu legen. Man ass seine Suppe wie gewöhnlich, nur dass hier und da verstohlene Blicke zu dem Fremdling hinüberstreiften. Bald kam aber die zweite Sensation. Das Fräulein, das einige Zeit verwundert auf die schweigenden Gesichter gesehen hatte, begann ein Gespräch. Seit Menschengedenken plauderte man nicht am Anstaltstisch. Es war immer, als ob der allgemeine Gram jedes Wort in den Kehlen zurückgehalten hatte. Sie aber stellte harmlos dem ihr gegenüber sitzenden Hausvater allerhand Fragen, sprach dann über das Wetter, Krankheiten und den englischen Nationalcharakter und zog allmählich auch Herrn von Wegeler in die Unterhaltung.

Dabei bemerkte er plötzlich, dass sie mit einem Blick grenzenlosen Erstaunens seinen Rock betrachtete, und zum erstenmal seit langer Zeit dachte er daran, dass der ja ganz entsetzlich schmutzig sein musste. Eine brennende Röte flog über sein Gesicht. Dann aber trat der ehemalige Offizier in ihm hervor. Mit Gewalt seine Verlegenheit niederzwingend, setzte er sich durch lebhaftes Geplauder über das Peinliche dieses Augenblicks hinweg, und schon nach wenigen Minuten waren in ihm wie in den übrigen am Tische Sitzenden wenigstens die Formen der besseren Vergangenheit wieder lebendig geworden.

Kaum dass sie die Tafel verlassen hatten, wurde von allen Seiten nach dem Hausdiener gerufen, und eine halbe Stunde später trabte dieser, keuchend unter der Last von vierzehn Oberröcken der Reinigungsanstalt zu. Herr von Wegeler zog sich seinen Sonntagsstaat an, und selbst der Ministersohn, der so lange Jura studiert hatte, bis ihm die Haare ausgegangen waren, suchte sich eine frische, lachsfarbene Krawatte hervor, obwohl er dabei murmelte, dass es doch eigentlich nur eine Erzieherin sei.

Beim Nachmittagskaffee boten sie einen anderen Anblick. Selbst der kleine Pastor, der immer in den Kleiderschrank stieg, um dort einen heimlichen Kognak zu sich zu nehmen, hatte sich rasiert und seine Hände gründlicher als sonst gewaschen. Die, der zu Ehren das alles geschehen war, liess sich zunächst aber nicht blicken. Als sie endlich doch erschien, war sie im Ausgehkostüm und trug den Sonnenschirm in der behandschuhten Hand.

 

»Meine Herren,« rief sie fröhlich, »wer von Ihnen will so freundlich sein, mich auf die Ziegelburg zu begleiten? Tante hat natürlich keine Zeit dafür!«

Eine Sekunde blieb alles still. Jeder dachte daran, dass es ihnen streng untersagt war, das Anstaltsgebiet zu verlassen. Dann aber schoben sich dreizehn Stühle zurück, und bis auf den Pastor erklärten sie alle, dass es ihnen ein besonderes Vergnügen sein würde.

Ein Lächeln in den schönen Augen, sah sie von einem zum andern.

»Die Herren sind zu liebenswürdig,« meinte sie dann. »So viel Kavaliere auf einmal würde aber doch beängstigend sein. Herr von Wegeler und Sie, Herr Leutnant, wenn ich bitten darf. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Und nach einem graziösen Kopfnicken ging sie den beiden Auserwählten voran.

Nachdem sie den hohen Burgberg bestiegen und die entzückende Aussicht genossen hatten, die bei einem mässig guten Glase bis zur Porta Westphalica reicht, schlug sie vor, noch einmal in die Stadt zu fahren, wo sie einen kleinen Einkauf zu besorgen hatte. Herr von Wegeler und der melancholische Leutnant folgten ihr auch dahin. Zum zweitenmal übertraten sie damit die jahrelang eingehaltenen Anstaltsvorschriften. Aber was sollten sie thun? Der blosse Gedanke, ihr gestehen zu müssen, dass sie wie Schulkinder nur eine sehr begrenzte Bewegungsfreiheit genossen, trieb ihnen schon die Scham in das Gesicht, und beiden schoss es wie ein Blitz durch das Gehirn, dass es doch eigentlich schmachvoll wäre, in solcher Abhängigkeit zu stehen – sie, zwei kräftige, gesunde Menschen!

Als sie heimkehrend die auf das Anstaltsgebiet führende Thür öffneten, sahen beide noch einmal zurück und in ihre Augen trat ein seltsamer Ausdruck. Dort lag die Stadt. Ihre Lichter funkelten zu ihnen herüber, und wie ein dumpfes Brausen schlug der Lärm der geschäftigen Freiheit an ihr Ohr. Das Haus vor ihnen aber lag tot und still.

Herr von Wegeler konnte in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen. Die Idee, wieder hinauszutreten, liess ihm keine Ruhe. Und am nächsten Tage nahm er einen grossen Bogen Papier zur Hand, auf dem er eine Eingabe an das Ministerium zu entwerfen begann. Er kam damit jedoch nicht zu Ende. Immer wieder hatte er zu streichen und zu verbessern, und so verschob er die Absendung denn von einem Tage zum andern und besserte tagtäglich daran herum.

Es war allmählich ein ganz anderes Leben in die Anstalt gekommen. Die Herren hielten wieder auf ihre Kleidung, bei Tische wurde geplaudert, die Tagesereignisse besprochen, hier und da auch ein Scherz gemacht. Selbst untereinander grüssten sie sich verbindlicher, und wenn einer das Rasieren vergessen hatte, trafen ihn missbilligende Blicke. Der melancholische Leutnant bürstete sogar seinen Schnurrbart hoch und legte regelmässig eine Bartbinde an, wodurch er gleich viel weniger melancholisch aussah.

An allen Ecken und Enden merkte man es, dass ein frischer Wind durch die modrige Luft der Resignation gefahren war.

Die Gouvernante hatte aber nur einen kurzen Urlaub. Schon am nächsten Sonntag musste sie fort, über den Kanal zurück in die erwerbende Fron der Kindererziehung.

Als sie sich von den Herren verabschiedete, wurde es von keinem besonders schmerzlich empfunden. Verliebt war ja niemand in sie, und niemand hatte daran gezweifelt, dass sie über kurz oder lang wieder verschwinden würde.

Bei der nächsten Mittagstafel hatten aber dennoch alle ein eigentümliches Gefühl. Die alte Pastorenwitwe sass grämlich auf ihrem Stuhl, der Hausvater hatte den weissen Kopf beinahe ganz in die Schultern hineingezogen, und die Herren sahen trübe in ihre Suppe, die auch weniger Fettaugen zu haben schien wie früher. Einmal versuchte der Ministersohn mit der roten Krawatte, ein Gespräch einzuleiten. Er erhielt aber nur einsilbige Antworten.

Am nächsten Tage war der Stumpfsinn wieder in alle seine Rechte eingesetzt. Die Röcke wurden wieder fleckig, Herr von Wegeler überliess seine Eingabe den Mäusen, der Leutnant bürstete sich den Bart nicht mehr, der kleine Pastor fing wieder an, das Rasieren und Händewaschen für Zeitverschwendung zu halten, und wenn des Abends die Lichter der Stadt herüberfunkelten, sah sie niemand mehr an.

Für wen auch?

Es war eine Welle der Aussenwelt auch in ihren »Frieden« gedrungen, aber sie ebbte viel zu früh zurück. Ihre Seelen sinken wieder in den alten Schlaf. Wie das graue Haus in der Dämmerung liegen sie da, tot, still, träge, während doch ganz in ihrer Nähe das Leben sich in gigantischer Arbeit regt und mit roten, funkelnden, bösen Augen zu ihnen herübersieht.

 

 

Freitag, 28. Juli 2023

Amtsrichter Johnsons Höhepunkte

 


Amtsrichter Johnsons Höhepunkte.

 von Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Jeder Mensch hat in seinem Leben einige Höhepunkte, die ihm bis sein seliges oder unseliges Ende unvergesslich bleiben.

Auch Ernst Alexander Johnson hatte die seinigen.

Den ersten hatte er damals erreicht, als er, der eben Amtsrichter in dem kleinen polnischen Städtchen geworden war, seine alte Studentenliebe heimführte.

Am ersten Abend, als sie beisammen sassen, schmiegten sie sich fest aneinander und blickten wortlos in ihre neue Heimat.

 

Ernst Alexander, in dem ein gefesselter Dichter lag, seufzte tief auf. Auf den Goldgrund des gegenwärtigen Glückes malten seine Träume Blüten und Kränze einer späteren Zukunft, und das Grün der Hoffnung war überall.

Die Augen wurden ihm feucht. Er griff nach der Hand seiner Frau und küsste sie, so dass sie seine Thränen spürte.

Auch ihre Blicke waren verschwommen. Vielleicht hatte sie seine Träume mitgeträumt. Sie fuhr ihm mit den Fingern in das braune, wellige Haar.

»Wie kann man nur so weich sein,« sagte sie. »Wie kann man nur so weich sein, du Lieber?« …

 

 

Sie lebten sehr glücklich zusammen. Nur einschränken mussten sie sich, denn das Gehalt war nicht gross. Das thaten sie aber gern. Ernst Alexander trank einen Schoppen weniger als früher, und gab nie mehr als fünf Pfennig Trinkgeld. Allmählich gewöhnte er es sich überhaupt ab, in ein Restaurant zu gehen. Wozu auch? Seine junge Frau machte es ihm daheim so behaglich wie möglich, und dass ihn der Kronenwirt, Herr Ignatz Malczewski, nur noch obenhin grüsste, liess sich verschmerzen. Als sie dann gar noch anfing, sich mit Schneiderei zu beschäftigen und ganz winzig kleine Häubchen und Jäckchen verfertigte, da brachte er es natürlich nicht mehr über das Herz, sie auch nur einen einzigen Abend allein zu lassen.

Es sollte aber früh genug anders werden. Nicht, dass ein Streit ihre Harmonie getrübt hätte! Aber eines Tages trat einer in ihr Häuschen, den sie beide noch in weiter Ferne geglaubt hatten. Der präsentierte die Rechnung für das stille, reiche Glück, das sie ein volles Jahr hindurch am Tisch des Lebens genossen hatten, und die Rechnung war hoch. Frau Marianne brachte ein totes Kind zur Welt, und drei Tage später folgte sie dem kleinen Wurm nach in die Grube.

Ernst Alexander blieb allein.

Fortan lebte er ganz einsam. Eine weiche Natur von Geburt an, schien der Verlust seines Weibes ihn ganz gebrochen zu haben.

 

»Es geht nicht so weiter mit Johnson,« sagte der »Aufsichtführende« jeden Tag. »Er vergrämt und vereinsamt immer mehr. Wir müssen etwas thun, um ihn aus dieser Lethargie zu reissen.«

Freitag, 21. Juli 2023

Der alte Steffen

 


Der alte Steffen.

 von Georg Busse-Palma

 Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Im Osten der Universitätsstadt erhebt sich das Armenhaus. Es ist aus massiven, grauen Steinen gebaut und hat zwei Stockwerke. In dem oberen befinden sich aber nur die Krankensäle, so dass die noch rüstigen Insassen von der schönen, kleinen Stadt fast nichts zu sehen bekommen. Denn aus ihren niedrig gelegenen Fenstern können sie die Mauern, die das Haus umschliessen, nicht überblicken, und Urlaub bekommen sie sehr selten.

Im Winter ist das zu ertragen. Wenn der Regen gegen die Scheiben schlägt oder die Flocken immer dichter und dichter herniederwirbeln, frieren die alten Leute und sehnen sich nicht nach draussen. Nur der alte Steffen vielleicht. Aber auch der denkt dann nicht an die deutschen Thäler und Gebirgsketten, die dann doch rauh und ungastlich sind. Er träumt von der heissen, brennenden Tropensonne, trotzdem gerade sie ihn so krank und elend gemacht hat.

Er ist schwach auf den Beinen und hat keine Kraft in den Händen.

Mehrere Jahre hindurch ist er Plantagenaufseher in Java gewesen und mit blossen Füssen über die Felder gegangen, bis sein Rückenmark verdorrt und er überflüssig geworden war. Da kam er nach Deutschland zurück, und fünf Jahre schon lebte er im Armenhause.

Aber in dem Druck der grauen, freudlosen Gegenwart kann er die Zeiten nicht vergessen, wo er als Lanzknecht die halbe Welt durchfahren. Er hat unter der Tricolore und unterm Halbmond gefochten, ist bei Sewastopol im Feuer gewesen und hat in Tonkin geblutet. Dann ist er zu den Holländern desertiert, und dort im Civildienst hat ihn das Unglück getroffen.

In der Schar seiner Hausgenossen ist er immer noch eine imposante Erscheinung. Unter Zwergen und Krüppeln und zahnlosen, ewig kauenden Bettlergestalten tritt seine stämmige Figur wirkungsvoll hervor. Der massige Kopf mit der kräftigen Nase, mit dem kurzen, grauen Vollbart und den hellen Augen muss gut aussehen, wenn eine Fahne über ihm flattert.

Gewöhnlich scheint er recht gleichmütig und ruhig. Manchmal aber fangen seine Augen an zu glühen und zu blitzen. Das ist, wenn die Sonne scheint. Jedem Sonnenstrahl sieht er dann nach.

Jetzt ist die Zeit seiner Marter und qualvollsten Wonne. Es ist Frühling geworden.

Stundenlang sitzt er täglich auf der verwitterten Holzbank im Hofe. Wenn er die Wimpern hebt, sieht man eine verzehrende Sehnsucht hervorlodern. Denn die Schwalben haben unter dem Giebel gebaut, und ihre Schwingen streifen um sein Gesicht, die Bäume grünen und sind voll junger Knospen, zwischen den Steinen im Hof schiessen schmale Gräser hervor, und die Vergangenheit wird in ihm lebendig.

Seit zwei Tagen hat er nicht mehr gesprochen und wird noch weitere Tage nicht sprechen. Seine Kameraden aber wissen, dass jetzt die Abende kommen, wo er erzählen wird, heiser vor Erregung, aber ein Poet in seiner sehnsuchtsreichen Qual.

Wenn sie alle zu Bette sind und nur die Nachtlampe rötlich glühend durch den dunklen Schlafsaal schaukelt, richtet er sich auf in den Kissen. Und er spricht von seiner Jugend und ihrer Sonne und Selbstherrlichkeit. Wie er in schimmerndem Segler über blaue Meere gefahren, und von den grünen Küsten Kleinasiens Marmorhäuser herüberwinkten und der glänzende Ölbaum. Wie er in Albanien biwakierte und mit Baschi Bozuks um ein Marschallsross gewürfelt, das feinere Glieder hatte als eine Königstochter und dessen Nüstern rosig waren wie der duftigste Nelkenkelch. Wie er in Algerien Feldwache gestanden in Palmenhainen und Dattelwäldern und einen Kabylen erschlagen um einen Trunk Wasser. Wie er in schaukelnder Dschunke den heiligen Strom durchglitten, vorüber an rauschenden, undurchdringlichen Dschungeln, unter Bäumen, die, im Lande wurzelnd, sich weit über das Wasser reckten und in deren dichtem Astwerk schlanke, bunte Königstiger lauerten, lautlos mit geschmeidigem Schweife die Flanken peitschend. Er spricht von Tropensternen und zierlichen havanesischen Frauen, von wirbelnden Trommeln und toten Freunden; nur von seiner Sehnsucht spricht er nicht.

Freitag, 14. Juli 2023

Ein Kind der See

 


Ein Kind der See.

 von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Er war ein Antwerpener.

Sein Vater, dessen Glieder die Gicht gekrümmt hatte, verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem offenen Meer, das er Jahrzehnte lang befahren hatte. Als kleiner Hafenbeamter wohnte er dicht am Wasser, und über die Wiege seines Kindes flogen die herben, salzigen Seewinde. In die Schlummerliedchen, die ihm die Mutter sang, schrillten die Dampfpfeifen, und wenn er des Nachts sein heisses Köpfchen aus den Kissen hob und durch das Fenster sah, glotzten ihn aus der Ferne böse, rotglühende Augen an. Er fürchtete sich aber nicht lange vor ihnen, denn ehe er noch sprechen konnte, wusste er schon, dass sie kein Spuk, sondern nur die Laternen mächtiger, dunkler Schiffskolosse waren, die sich schwerfällig durch den Kanal dem geräumigen Hafen zu bewegten.

Kaum, dass er die Kinderschuhe ausgetreten hatte, ging auch er zur See. Als Leichtmatrose fuhr er auf einem Kauffahrteischiff.

Da kam es, dass sein Grossvater mütterlicherseits, der tief im Binnenlande wohnte, um eine Mitternacht den Tod an die Thüre seines Gehöftes pochen hörte. Auch die Klinke hatte geknirscht, aber der hagere Schnitter war noch einmal vorübergegangen. Nur gemahnt hatte er den Alten. Am Tage darauf ging dieser zu dem Geistlichen des Ortes und liess sich einen Brief schreiben an seine Tochter, die Mutter von Henrik Jansen junior. Einen Brief des Inhalts, dass sein Enkel zu ihm kommen solle, damit, wenn der Schnitter wiederkäme, einer da wäre, der die gemähte Garbe in die Scheuer bringe und ihm ein Erbe, dem Gehöft aber ein neuer Herr sei.

Jansen jun. stiess anfänglich nur ein unartikuliertes Grunzen aus, als seine Mutter ihm davon Mitteilung machte. Da er gerade nicht geheuert war, reckte er seine mächtigen jungen Glieder auf der Ofenbank und faulenzte. Er dachte aber immer daran, dass er bald wieder fahren würde, und es wollte ihm durchaus nicht in den blonden Schädel, dass er überhaupt von der See weggehen und als Binnenländer leben könnte. Zwischen Leuten, die noch nie einen schwimmenden Balken unter den Füssen gehabt! Lächerlich war dies einfach. Und am Schluss dieser Gedankenkette spie er verächtlich ein Stück Kautabak in weitem Bogen durch das geöffnete Fenster.

Seine Mutter, die früh verhärmt und früh gealtert aussah, liess aber nicht nach. Für sie, die tief im Lande Geborene, waren Meer und Schiffahrt immer nur unersättliche Mörder gewesen. Zwei Brüder ihres Mannes hatten sie auf dem Gewissen. Der eine war ertrunken, der andere hatte sich das gelbe Fieber geholt und war in der Fremde verscharrt worden. Sie fürchtete für ihren Sohn und wurde nicht müde, auf ihn einzureden.

Es dauerte aber lange, bis sie seine schwerfälligen Gedanken auf den Punkt gebracht hatte, von dem aus gesehen das Binnenland lieblich war. Als er jedoch einmal sich selber sagte, dass es prächtig sein müsse, auf eigenem Grund und Boden zu stehen, wo er keinem Kapitän und keinem Steuermann zu parieren brauchte – da hatte sie gewonnenes Spiel.

Jansen jun. erhob sich von der Ofenbank, trank einen Genever und siedelte dann zu seinem Grossvater über.

Das Dorf, in welchem dieser wohnte, war fett und nahrhaft und seine eigene Wirtschaft desgleichen. Als der Alte seinen Enkel bei sich hatte, neigte er das Haupt, so tief wie eine Ähre im Juli. Bald knirschte die Klinke zum zweiten Male, und diesmal ging der Fremde nicht vorüber; im Gegenteil gab er dem Landwirt gewordenen Matrosen Gelegenheit, ein würdiges Leichenbegängnis zu veranstalten und sich als Herrn eines gesegneten Ackers, eines stattlichen Gebäudes und mehrerer Joch Ochsen zu fühlen.

Ein alter, erfahrener Knecht war da, so dass es an der kundigen Hand nicht fehlte und Jansen jun. Zeit hatte, die Schönheit des Binnenlandes kennen zu lernen.

Anfänglich erregte alles seine Bewunderung und Freude. Die wogenden, goldgelben Ähren, die ihm fast bis an die Schulter reichten, die fruchtstrotzenden Obstbäume und nicht zum mindesten der sagenumwobene Klapperstorch, der sich hier auf der sumpfigen Wiese behaglich Frösche fing, – es waren ihm entweder ganz fremde Erscheinungen, oder doch nur wie flüchtige Traumbilder, irgendwo in der Vergangenheit gesehene. So verging ihm der Sommer schnell und fröhlich. Solange ihm alles neu und fremd war, gefiel ihm das Dorf, den Herbst hindurch und auch den Winter über. Wenn es ganz grimmig kalt war und er in dem mollig erwärmten Zimmer sass, schmunzelte er sogar mitunter bei dem Gedanken, dass er das Jahr vorher um diese Zeit an der englischen Küste getrieben hatte, wo es so kalt war, dass die Haut der arbeitenden Hände in Fetzen an den gefrorenen Tauen kleben blieb. Ach, da war es hier am Kamin doch behaglicher! Und er stopfte sich eine neue Pfeife, trank einen neuen Genever und war zufrieden.

Als es aber Frühling wurde, ging er umher wie ein Verlorener. Es drückte ihn etwas. Wie ein Stein lag es auf seiner Brust. Manchmal war es ihm, als ob er an dem fetten, kräftigen Erdgeruch ersticken müsste. Die ganze Luft war durchtränkt von ihm und selbst der Wind war fett und erdig.

Er klagte dem Geistlichen sein Leid.

 

Freitag, 7. Juli 2023

Abendfalter

 


Abendfalter.

von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

 An jedem Samstag Nachmittag hatte Brigitte Winterfeld nichts Besseres zu thun, als mit den Kindern des Pfarrers auf der grossen Wiese herumzutollen. Es waren dies zwei Mädchen von elf und dreizehn Jahren, bei denen es lange währte, ehe sie ermüdet, aber jauchzend vor Vergnügen, sich in die Butterblumen warfen, die ebenso goldgelb waren wie der Sommersonnenschein über ihnen. Brigitte liess aber, ihrer eigenen Trägheit zum Trotz, nicht eher nach, und wenn sie es erreicht hatte, dann war auch die ruhende Gruppe, die braunen Kinder zu Seiten ihrer grossen, schönen Spielgefährtin, ein Bild, das allen Augen gefiel.

Der pensionierte Oberförster Winterfeld besass, einen Büchsenschuss vom Dorfe entfernt, ein Landhaus, weilte aber jeden Sonnabend bis Mitternacht in der Stadt, wo ihn gute Freunde und ein guter Trunk nicht eher losliessen. So war es schon seit Jahren Sitte, dass seine Tochter die einsamen Stunden beim Pfarrer und dessen Kindern verbrachte. Sie war auch selber noch harmlos genug, um an dem lustigen Spiel der Kleinen ihre eigene lichte Freude zu haben.

Nur einer störte sie mitunter in ihrer Fröhlichkeit.

Wenn der Gutsverwalter, ein stiernackiger Schwarzkopf von ungefähr dreissig Jahren, auf dem schmalen Richtweg bis an ihren Wiesenplatz herangeritten kam und ihnen zusah, vermochte sie weder ruhig im Grase liegen zu bleiben, noch mit den Kindern um die Wette zu laufen. Seine Augen ruhten mit einem so seltsamen Ausdruck auf ihr, dass sie immer das Gefühl hatte, als ob an ihrer Kleidung etwas nicht in Ordnung wäre. Sie folgten jeder ihrer Bewegungen, die durch das dünne, schmiegsame Hängekleid allzusehr hervortraten, und liessen nicht eher ab, als bis ihr Zorn und Scham die Schläfen dunkelrot gefärbt hatten. Dann ritt er pfeifend zurück, und frei und fröhlich konnte sie wieder aufatmen.

 

Es gab noch einen anderen, bei dessen Nahen sich ihre jungenhafte Ungezwungenheit verlor. Das war Otto Ehlers, der Sohn des Lehrers, der ihr Freund war von Kindesbeinen an. Wenn sie diesen sah, blieb sie auch nicht ruhig liegen, aber nur, weil sie ihm gefallen wollte und weil sie nicht wusste, dass sie am schönsten war, wenn ihre vollen Glieder sich so weich und wohlig in der Sonne dehnten. –

Brigitte Winterfeld war kein Kind mehr. Sie stand erst im siebzehnten Lebensjahre, aber ihre Formen waren weit über ihr Alter hinaus gereift. Wenn sie aufrecht dastand, konnte man sie für eine junge Frau halten. Nur an den schweren Zöpfen, die ihr blauschwarz bis über die Hüften fielen, und auch an den immer etwas sehnsüchtigen, fragenden Augen erkannte man auch äusserlich ihre unberührte Jugend. –

Es war im Spätsommer, und der Abend hing schon am Horizont, als Otto Ehlers zum letzten Mal vor seiner Abreise auf ihren Spielplatz kam.

Die Kinder sprangen ihm entgegen und hingen sich an seine Arme.

»Warum kommst du so spät heut, Onkel Otto?« –

»Es ging nicht eher, ihr Racker. Ich musste doch allen Adieu sagen,« sagte er halb lachend und halb wehmütig.

Dann begrüsste er Brigitte.

»Sie wissen ja schon, Briggi, dass ich morgen abreise?«

 

Freitag, 30. Juni 2023

Die Haushälterin

 

DIE HAUSHÄLTERIN

von

Marjorie Bowen

Veröffentlicht in Crimes of Old London, Odhams Ltd., London, 1919


Herr Robert Sekforde, ein ziemlich lädierter Mann der Mode, betrat mit taumelndem Schritt sein Haus in der Nähe der Taverne des "Black Bull" in High Holborn. Er war immer noch unter dem Namen "Beau Sekforde" bekannt und war immer noch ganz im Sinne der Mode des Jahres 1710 gekleidet, mit weiten Brokatröcken, einer riesigen Perücke und einer Menge Spitzen und Strassverzierungen, die fast so glänzend waren wie Diamanten.

Herr Sekforde selbst hatte viel von dieser falschen Pracht an sich; aus einiger Entfernung sah er noch immer wie der prächtige Mann aus, der er einst gewesen war, aber bei näherer Betrachtung war er mit Puder und Rouge beschmiert wie eine Frau, schwer um die Augen und den Kiefer, fahl auf den Wangen - ein zwar hübscher Mann, aber einer, der durch Jahre des Müßiggangs, des guten Lebens und der billigen Ausschweifungen einer zugleich brutalen und verweichlichten Natur tief gezeichnet war. In den wohlgeformten Zügen und den dunklen Augen gab es nicht eine Kontur oder einen Schatten, der nicht dazu beitrug, einen lasterhaften und wertlosen Typus zu präsentieren; dennoch hatte er eine Ausstrahlung von Erziehung, von Galanterie und Anmut, die ihm bis jetzt immer oberflächliche Bewunderung eingebracht und ihm über unangenehme Stellen in seiner Karriere hinweggeholfen hatte. Er war nicht einmal von edler Geburt, und die Dunkelheit, die seine Herkunft umgab, zeugte von der Scham, die er angesichts des düsteren Beginns einer so glänzenden Karriere empfand.

Er betrat seine Villa, die bescheiden, aber elegant war, und ließ sich Kerzen in sein Arbeitszimmer bringen.

Er zog langsam seine weißen, duftenden Handschuhe aus und starrte nachdenklich auf seine prallen, glatten Hände und dann auf den Schreibtisch aus Nussbaumholz, der mit silbernen und ebenholzfarbenen Standschalen, Stiften und Kerzenhaltern und einer großen Anzahl kleiner Notizen auf goldumrandeten und parfümierten Papieren übersät war.

Herr Sekforde wusste, dass es sich bei den letzteren um Rechnungen handelte, so sicher wie er wusste, dass es sich bei den ersten um fade Einladungen zu drittklassigen Bällen und Ausflügen handelte.

Alles in der Welt von Herrn Sekforde wurde jetzt ziemlich drittklassig.

Er blickte sich verzweifelt im Zimmer um, mit jenem hässlichen Blick des Trotzes, der nicht Mut, sondern Feigheit ist, wenn man ihn in Schach hält.

Nichts im Haus war bezahlt, und sein Kredit würde nicht mehr lange halten; dies war ein letzter Versuch gewesen, sein wackeliges Floß auf den Gewässern der Londoner Gesellschaft zu treiben; er konnte sich vorstellen, dass er ganz bequem untergehen würde.

Es sei denn ...

Freitag, 23. Juni 2023

FLORENCE FLANNERY

 

FLORENCE FLANNERY

von

Marjorie Bowen

Erstmals veröffentlicht als "Florence Flannery-An Ornament in Regency Paste", 1924


SIE, die Florence Flannery gewesen war, bemerkte mit unachtsamem Auge die nassen Flecken auf der staubigen Treppe und suchte mit einem Blick, der an die Beobachtung von Häuslichkeiten nicht gewöhnt war, nach feuchten oder tropfenden Decken. Das schummrige Treppenhaus enthüllte nichts als noch mehr Staub, aber das würde als Aufhänger für schlechte Laune dienen, also schmollte Florence. "Ein kranker, schmutziger Ort", sagte sie, die Vergoldungen und Verzierungen und Spiegel, in denen sich Samtstühle spiegelten, liebte, und zappelte in das obere Gemach, wobei sie die Rüschenröcke verächtlich hochhob. Ihr Mann folgte ihr; sie waren seit einer Woche verheiratet, und es hatte nie ein Glück in ihrer wilden Leidenschaft gegeben. Daniel Shute suchte jetzt nicht danach; im Ekel vor dieser schleppenden Heimkehr fragte er sich, was ihn dazu bewogen hatte, diese Frau zu heiraten, und wie bald er sie zu hassen beginnen würde.

Als sie in dem großen Schlafzimmer stand, betrachtete er sie mit Abneigung; ihr kitschiger Charme vulgärer Hübschheit war einst für seine benommenen Sinne und seinen verwirrten Verstand reizvoll gewesen, aber hier, in seiner alten Heimat, umspült von der feinen Luft Devons, war sein Blick klarer, und sie erschien ihm grob wie eine Mohnblume am Ende des Augusts.

"Natürlich hasst du es", sagte er zynisch, während er sich mit den breiten Schultern gegen einen der Bettpfosten lehnte, die dicken Hände in den Taschen seiner engen Nankeen-Hose, und sein blondes Haar, das von der Reise zerzaust war, hing ihm über das gesprenkelte Gesicht.

"Es ist nicht die Wohnung, mit der du dich gerühmt hast", antwortete Florence, aber müßig, denn sie stand am Fenster und betrachtete die winzigen Bleiglasscheiben; die Herbstsonne schimmerte seitlich auf diesem Glas und hob einen Namen hervor, der dort eingeritzt war:

Florence Flannery.
Geboren 1500.

"Sehen Sie hier", rief die Frau aufgeregt, "das müsste meine Vorfahrin sein!"

Sie streifte einen großen Diamantring ab, den sie trug, und kratzte unter die Schrift die heutige Jahreszahl "1800". Daniel Shute kam und schaute ihr über die Schulter.

"Das liest sich seltsam - 'Geboren 1500' - als ob du sagen würdest, gestorben 1800", bemerkte er. "Nun, ich nehme nicht an, dass sie irgendetwas mit dir zu tun hatte, mein Charmeur, und doch hat sie dir Glück gebracht, denn erst durch die Erinnerung an diesen Namen hier bin ich auf dich aufmerksam geworden, als ich hörte, wie du genannt wirst."

Freitag, 16. Juni 2023

 SELBSTMORD AUS LIEBE

 

Georges Eekhoud

SELBSTMORD AUS LIEBE


An Georges Khnopff.

Marcel Gentrix, dem Dilettanten, war es passiert, dass er in einem der sehr seltenen Fälle, in denen er sich zu einem Abendessen einfand,- denn er fühlte sich schon bei dem Gedanken an Präsentationen, Auftragsfreundlichkeiten und müßige Gesichter unwohl,- mit einem englischen Gentleman namens Sir Lawrence-Frank Whittow zusammentraf.

Das nebulöse und rätselhafte Gesicht des Fremden hatte seine Aufmerksamkeit ebenso gefordert wie ein seltener Gegenstand, eine antike Medaille oder eine ausgegrabene Musik. Ohne die Art des Spuks oder der Besessenheit zu erraten, unter der Frank Whittow litt, vermutete der falsche Misanthrop in ihm einen dieser stolzen Menschenfreunde, einen dieser außergewöhnlichen Menschen, die sich in sich selbst zurückgezogen haben und sich an den Leidenschaften verzehren, die sie nicht wie ein reinigendes Feuer an eine Elite von Sterblichen weitergeben konnten.

In den Augen der Außenwelt war Sir Lawrence einer der drei oder vier Zeitgenossen, auf die man das Attribut "Wissensschmiede" anwenden konnte und die im Mittelalter ebenso viele Doktoren Faust gewesen wären.

Eine Reihe gewaltiger Entdeckungen in den Naturwissenschaften hatte ihn mit Ruhm und fast mit Schrecken erfüllt. Diesem blassen, dünnen Mann mit seiner dumpfen und ernsten Aussprache haftete etwas von dem Prestige an, das Zauberer und Wundertäter umgab, und so wunderbar und sogar erschütternd seine Entdeckungen auch waren, die Gelehrtenkreise erwarteten von seinem Genie noch wundersamere Errungenschaften. Sie waren der Meinung, dass ihr berühmter Kollege mehr wusste, als er sagen und veröffentlichen wollte.

Wäre er nicht einmal mit einem Nimbus versehen gewesen, hätte seine Physiognomie Vertraute und Indiskrete ferngehalten. Er war dreißig Jahre alt, aber sein Gesicht wirkte manchmal wie achtzehn und manchmal wie fünfzig.

Um den Eindruck zu beschreiben, den die charakteristische Maske des Baronets auf ihn gemacht hatte, fiel Marcel nichts Besseres ein, als sie mit einem heißen Himmel an einem dieser meteorologischen Chaostage zu vergleichen, an denen sich unheimliche Gewitter mit allzu sonnigen Himmelstürmen abwechseln.

Sir Lawrence hatte sehr schwarzes Haar, einen spärlich bewachsenen Bart und Schnurrbart, schmale, leicht sardonische Lippen, aber, was vor allen anderen Details seiner Physiognomie auffiel, außergewöhnlich blaue Augen, die klaren und zwingenden Augen eines Magnetiseurs, mit zeitweise diesem flüchtigen und schrägen Etwas, das die Neapolitaner an den Jettatori feststellen.

Marcel Gentrix sagte mir oft, als er zum ersten Mal mit dem berühmten Fremden zu tun hatte, dass ihm der ganze Charakter wie von einem inneren Licht erleuchtet erschien, seltsam lunar und siderisch, wie Ideen, die zu leuchten beginnen, wie ein psychisches Fluidum, das sich dem visuellen Sinn offenbart, und Marcel fügte hinzu, dass an bestimmten kritischen und emotionalen Tagen diese Konzentration moralischer Strahlen in Sir Lawrence so stark war, dass die Gegenstände um ihn herum zu verschwimmen und zu dämpfen schienen, in Dämmerung ertrinken würden. Um mich des malerischen Ausdrucks meines Freundes zu bedienen: Es war, als ob die Sonne in diesem Mann unterginge.

Zur Überraschung aller beehrte Sir Lawrence-Frank Whittow Marcel mit häufigen Besuchen. Man scherzte sogar, soweit man es wagte, den englischen Gelehrten zu scherzen, über die plötzliche Freundschaft dieser beiden schweigsamen Männer. Zunächst ging es zwischen ihnen vor allem um die Gesetze und Phänomene der Physik. Von den etablierten und kontrollierten Experimenten aus begaben sie sich auf die Felder der Hypothesen, Induktionen und Wahrscheinlichkeiten.

Freitag, 9. Juni 2023

DIE QUADRILLE DES LANZENTRÄGERS

 

Georges Eekhoud

DIE QUADRILLE DES LANZENTRÄGERS


...an welchen Orten ich sah und
praktiziert such villainy as is abominable
zu erklären.

Robert Greene (Reue).

Durch durch die Reinigung aller
Ekel.

Tristan Courbière. (Der Renegat.)

I


Zu dem rauen, metallischen Eindruck des dämmrigen Himmels über der Kaserne des 45. Lanciers fügten die Trompeten, die zur Versammlung riefen, wie Tropfen geschmolzenen Kupfers hinzu.

Die etwa hundert Einberufenen, die vor einer nicht alltäglichen Situation gewarnt wurden, strömten aus den Zimmern in den Hof.

Es gab keinen, der sich nicht für einen Mustersoldaten hielt, verglichen mit dem Schwein, das sie zur Rechenschaft ziehen wollten. Der Kommandant wartete mit der Säuberung, bis es dunkel wurde und die guten Leute draußen waren, weil er es für überflüssig und fast schon ungesund hielt, sie als Vollstrecker der niederen Werke einzusetzen. Die Erfahrung, die Truppenführer mit dem menschlichen Charakter haben, garantierte, dass der Verurteilte nicht auf härtere und unerbittlichere Folterer treffen würde als die im Quartier zurückgehaltenen Arsouillen und Ersatzleute.

Sie stellten sich in Schlachtordnung in zwei Reihen auf, die sich im Abstand von zwanzig Schritten gegenüberstanden.

Der Hauptmann flüsterte einem Maréchal des Logis einige Worte ins Ohr, der sich mit zwei Reitern in den Flügel des Gebäudes begab, der von den Kerkern gekrönt wurde, und der Hauptmann war ernst und zwirbelte die Zähne seines Schnurrbarts. Im Geiste verfolgten die Männer den Aufstieg des Piketts auf den Dachboden und stellten sich vor, wie sie den Hauptverantwortlichen dort oben auffordern würden und wie er die wichtigsten Vorkehrungen treffen würde, bevor er mit seiner Leibgarde herunterkam.

Aber wie es bei solchen Erwartungen an ein spannendes Spektakel immer der Fall ist, rannte ihre Phantasie auf der Post herum und es vergingen Minuten, in denen der Kommandant mit der Peitsche den imaginären Staub von seinen Stiefeln bürstete, bevor der Protagonist des versprochenen Dramas mit seiner Eskorte herauskam.

Unter den keuchenden Soldaten ging ein Raunen um, das dem Rascheln trockener Blätter glich, die vom Novemberwind gejagt werden. Dann herrschte eine Stille, in der man das Destillat der Gedanken und das Pochen der Herzen hören konnte.

Trotz seines unglücklichen Zustands und der Schande dieser Konfrontation war der noch sehr junge Täter ein sehr plastischer Reiter mit einer vorteilhaften Größe und einer hübschen Physiognomie, der sozusagen in seine stroh- und granatrote Uniform mit gelb-orangem Besatz eingepasst war. Er trug die große Uniform, aber ohne Säbel, Sporen und Czapska. Er riss die Augen auf wie ein Nachtvogel, der plötzlich dem Licht ausgesetzt ist, und einige Strohhalme in seinem schwarzen, krausen Haar ließen vermuten, dass man ihn schlafend auf seiner Sänfte erwischt hatte.

Obwohl er sich frei bewegen konnte, bewegte er sich mit der Langsamkeit und Unbeholfenheit eines Rekruten. Er schien außer Atem zu sein, und als er stehen blieb, um Luft zu holen, zerrten ihn die Soldaten, die ihn flankierten, an den Armen bis auf zehn Schritte an den Hauptmann heran.

Um den feindseligen und sarkastischen Blicken zu entgehen, die hartnäckig auf ihn gerichtet waren, blickte der junge Mann auf und schien dem Flug einiger Spatzen zu folgen, die zwitschernd zu ihrem Nest auf den Dächern zurückkehrten, unter denen man ihn eingesperrt hatte, Als er plötzlich hörte, wie ein Pferd am anderen Ende der Kaserne wieherte und im nächsten Moment mit den Hufen scharrte, mit der Ungeduld eines frischen Pferdes, das schon zu lange im Stall stand, sein eigenes Pferd, den hübschen Fuchs, der so gut zum Reiter passte. Rief das edle Tier nach seinem Herrn? Der Gedanke, dass er es nie wieder reiten würde, machte das Gefühl seiner Schande noch grausamer, und zum ersten Mal seit seiner Verhaftung konnte er seine Tränen kaum zurückhalten.....

Nachdem er jedoch gehustet hatte, entfaltete der Hauptmann ein Verwaltungsstück und las, nicht ohne zu stottern, das Protokoll über die Tat auf frischer Tat.

Mit feuchten Augen, die immer noch auf den Dachfirst gerichtet waren, und hängenden Armen bemühte sich der Patient, nur dem Gezwitscher der Spatzen, dem Wiehern seines tapferen Pferdes und auch den ersten Akkorden eines Heurigenballs zu lauschen, der in der Nähe des Viertels tobte, aber so sehr er sich auch bemühte, die schamhaften und schnarchigen Umschreibungen der Anklageschrift beherrschten alle anderen Gerüchte, und die Worte seiner Verurteilung: ". ...Sittenverbrechen...schändliche Erniedrigung...Ausschluss aus der Armee..." zerschlugen sein Trommelfell wie Beckenschläge oder zerfetzten es wie Pfeifensplitter.

Freitag, 2. Juni 2023

 DIE GUTE LEKTION

 

Georges Eekhoud

DIE GUTE LEKTION


An Alfred Vallette.

Die junge Lehrerin, die aufgrund einer überstrahlten Seele sehr blass im Gesicht war, unterbrach ihren Unterricht an einem drückenden italienischen Nachmittag in der kleinen Klasse für sehr junge Kinder in Motta-Visconti.

Durch die offenen Fenster, an denen eine schwache Brise von Zeit zu Zeit die halb heruntergelassene Jalousie aufbläst wie das Kropfband einer sich rümpfenden Taube, sieht man das grüne und fruchtbare Land am Fuße des Apennins, mit der kreidefarbenen Dorfstraße, die in eine Pappelallee übergeht, zwischen denen sich die Ernte unter den Maulbeerbaumreihen mit den dünnen Weinreben abwechselt, deren kleine Blätter das grelle Licht weiß werden lässt. Es gibt Weizen und Trauben, aber auch Seide, das Luxusgut, das neben dem Brot steht, das allen gehören sollte, und neben dem Wein, der alle Menschen trösten und ihnen ermöglichen sollte, immer unter beiden Arten zu kommunizieren. Wer kennt schon Seide, wenn nicht in den Seidenfabriken von Motta-Visconti?

Ungekleidet, nur mit einem bräunlichen Hemd bekleidet, mit versengten, hochgeschlossenen Hosen, die von ungleichen Hosenträgern gehalten werden, und barfuß, schlummern die Kleinen über ihrer Fibel in hübschen, gefalteten Posen, mit Schmollmund und Lächeln auf ihren dicken Lippen, die von den Liebkosungen der Träume gestreichelt werden. Lockige oder buschige Haare und pummelige Wangen stützen sich auf kleine, dicke Arme - Wangen, die vom Staub gebräunt und von neuem Blut karminrot sind. Und es ist ein Flüstern der starken Atemzüge, die das Summen der großen blauen Fliegen.... wiegt.

Die Lehrerin, die Arme, mit ihrer guten und leidenschaftlichen Seele, nutzt diese Pause, um süße und bemitleidenswerte Lieder zu reimen. Diese Atmosphäre der blühenden Elendsgestalten, der Ausgestoßenen, inspiriert sie zu mitfühlenden und bedauernden Dingen, und dieses erste Alter der ländlichen Leibeigenen, diese Keime der zähmbaren und korrumpierbaren Menschheit verleiten sie zu schmerzlichen Rührungen, denn sie denkt daran, was sein sollte und was noch nicht sein wird für all diese so neuen und so kandidatenhaften Wesen.

Sie bemitleidet sich selbst, rührend und mütterlich, und träumt von Ruhe und Sonne für all diese Jungen.

Sie ist die Fee mit den magischen Gaben, die das Schicksal abwenden und Freude, Gelassenheit, Illusionen und Zärtlichkeit auf diese Köpfe regnen lassen kann. Sie kann ihnen wie den einfachen Wiesenblumen die lebensspendenden Säfte verschaffen, die die samtige Frische ihrer anmutigen Gesichter erhalten und zum Blühen bringen. Sie weiß, was ihnen schon an der Schwelle des Lebens fehlt, sie weiß, welche noch härteren Entbehrungen ihnen bevorstehen, sie weiß, welche Ungerechtigkeit und Schmach ihnen droht.

Ach, dass sie nichts tun kann, um das verhängnisvolle Elend zu entwaffnen, dass sie all diese hübschen menschlichen Sprösslinge vor den Holzfällern und den industriellen Wühlern schützen kann, dass sie nur die arme, mitleidige und traurige Dichterin sein kann, die sie zwar liebt, aber ihnen nichts zu geben hat als ihre Tränen und ihre wohltätigen Verse.....

Ihre anmutigen Reime befeuchten das weiße Papier wie die Tränen ihr Taschentuch. Sie ertappt sich dabei, wie sie über die Zukunft dieser Schüler nachdenkt: "Arme Dornenblumen, Nachtigallen aus der Hütte, was werden sie in zehn Jahren sein? Sie werden niederträchtig oder pervers sein, sie werden Dummheiten erzählen, sie werden geduldige Handlanger sein oder Geldbeutel zerschneiden, sie werden unterwürfige Galeerensklaven in der Werkstatt sein oder subversive Arbeiter in den Gefängnissen. Wo wird sie sie wiedersehen, in der Kaserne, im Krankenhaus, in der Leichenhalle, im Zuchthaus, auf dem Schafott?"

Freitag, 26. Mai 2023

 BLANCHELIVE ... WEISSELIVETTE!


 Georges Eekhoud

BLANCHELIVE ... WEISSELIVETTE!


Die geliebten Passanten, die nicht mehr
nicht mehr vorbeikommen.

G.E.


Nach einer Nacht grausamer Schlaflosigkeit, die durch die irritierende und suggestive Lektüre eines Prozesses gegen jugendliche Vergewaltiger und vor allem durch das obsessive Lied, mit dem sie sich versammelten, schlecht bekämpft oder vielmehr übertrieben wurde:

"Blanchelive Blanchelivette, wann willst du mich lieben?
-Wenn du mir mit deinen sorgfältigen Fingern eine Kette machst."

und das ich mir im abwechselnd hastigen und schleppenden Rhythmus des Fiebers vorgesungen hatte,- als ich aus dem Bett stieg, sehnte ich mich nach Atemluft, Gelassenheit und einem Szenenwechsel, wollte den Spuk dieser kriminellen Enthüllungen abschütteln und lief in einem Zug in einen großen Park in der Vorstadt.

Ich spielte wirklich unglücklich. Ebenso gut könnte ich mich in einem warmen Gewächshaus abkühlen, in einer Taucherglocke, die auf den Grund eines kochenden Ozeans hinabgelassen wurde. O dieser niedrige Himmel, drückend wie ein Bleideckel! All das Grün unter diesem Grau. Dieses Grün-von-Grau! Und die Bäume, die zu tropischen Essenzen, zu baumartigen Gewürzen umgewandelt wurden! Der Flieder, der nach Vanille und sogar nach Krankenhausdroge stinkt! Und die wütende, schrille Symphonie verzweifelter Vögel, die Gefahr wittern.....

Da ich nicht wusste, auf welche Ursache die Panik dieses kleinen Volkes zurückzuführen war, wollte ich in einen Strauß von Eschen eindringen. Ein Knacken, gefolgt vom Fall eines schweren Gegenstandes, ereignete sich in den Zweigen.

Sofort bricht ein schleichendes, schneidiges Wesen aus dem Baumstrauß hervor und lagert sich klamm und geschmiert in der opalinen Verdunstung des Taus:

Das Gesicht und die Miene eines Lehrlings ohne Werkstatt, eines jungen Dreschers, eines Vogelsuchers. Höchstens achtzehn Jahre alt. Kurzes, dichtes Haar auf einer niedrigen Stirn, das an Otter erinnert, eine Hautfarbe wie Basalt, die wie Roggenbrot schmeckt, große, goldbraune Augen mit langen Wimpern, ein samtiger, magnetischer Blick, die Nase mit beweglichen Flügeln und zitternden Nasenlöchern; der weinige, leckere Mund, ein Schatten des Schnurrbarts, das bartlose, eckige Kinn, die vorstehenden Wangenknochen (die ausgeprägten Zygome würden die Kriminalisten sagen), die kleinen, gut gesäumten Ohren, obwohl sie von den Magistern und Chefs, ganz zu schweigen von den Kerkermeistern, auf eine harte Probe gestellt wurden; Der Körper ist wunderbar entkoppelt, harmonisch, durchtrainiert, gewölbt und wird durch abenteuerlich geschnittene Lumpen nicht beeinträchtigt, die an manchen Stellen Löcher haben, bemoost, versengt und gerieben sind wie die alten Baumstämme, an denen er gerade hochgeklettert ist.

Als ich ihn näher betrachte, sehe ich nur eine einzige Missbildung: die riesigen Hände, alle rot, mit furchterregender Muskulatur und dem übermäßig langen Daumen, den Lombroso Mördern von Beruf zuschreibt.

Freitag, 19. Mai 2023

DAS GERICHT IN DER WÄRMESTUBE

 

Georges Eekhoud

DAS GERICHT IN DER WÄRMESTUBE


An Herrn Oscar Wilde,
An den Dichter und den heidnischen Märtyrer,
gefoltert im Namen der
Protestantischen Gerechtigkeit und Tugend.

Jacques la Veine, der treue Kerl, der regelmäßig in der Strafanstalt untergebracht war, hatte dort gerade wieder sein Winterquartier bezogen.

Zum fünfzigsten Mal schlossen sich die Türen des Depots für ihn.

Zu diesem Anlass veranstalteten die Kameraden, alte Rückkehrer oder blühende Vagabunden und Neulinge, in der Pause ein kleines Fest in der Wärmestube, ja, eine richtige Geburtstagsfeier, intim und zärtlich wie eine goldene Hochzeit.

Wenn ich einen Teil der Insassen dieser Anstalt als alte, zurückgekehrte Pferde bezeichne, so ist das nur eine Redewendung, denn viele der Rückfalltäter, die wie dieser Jubilar eine ganze Reihe von juristischen Makeln aufweisen, waren kaum älter als dreißig Jahre. Es gab zwar einige, die so verdorben und schwachsinnig waren wie die Partygänger der Oberschicht, aber es gab auch andere, die ein gesundes Leben als Rentner ohne Rente und als Arbeiter mit trügerischen Arbeiten und chimärischen Berufen führten. Sie waren in dieser Versammlung sogar zahlreicher als die Topfschlagenden und Valetudinären, die kräftigen und blühenden Geniestreiche, die Freunde der heiligen Faulheit oder nutzloser, aber genialer Hobbys, die Fresser und Schlemmer, die verbotene Früchte aßen, von denen die meisten jedoch Schwächen und Schamgefühle respektierten und nicht in der Lage waren, eine Blume zu verwelken, ein Nest zu stehlen oder ein Kind zu missbrauchen; Dichter in Aktion, Luxusmenschen, die sich nur von ihrem Gewissen leiten ließen und sich um der schönen Gesten und kategorischen Behauptungen willen mit Nachstellungen, Fesselungen, Verbannungen und manchmal langsamen Folterungen abfanden.

Alle Unregelmäßigkeiten waren an diesem Nachmittag in der tristen Wärmestube, der ehemaligen Kapelle des feudalen Schlosses, nebeneinander und verbrüdert. Die bis zur Höhe des Spitzbogens zugemauerten Fenster sorgten für ein spärliches Kryptenlicht. Es war erst vier Uhr und die Trompeten der Soldaten hatten noch nicht das Herannahen des letzten täglichen Zuges pulveriger Füße angekündigt, aber der November verrichtete sein knollenartiges Werk, es nieselte und die Nadeln eines kalten Regens rissen wie rote Blutstropfen aus dem Tag, der bereit war, sich zu entblättern.

Doch drinnen war es noch grauer und feuchter, obwohl ein gusseiserner Ofen glühte, der inmitten von schweren Atemzügen, Schweißausbrüchen und Rauchwolken den düsteren Sonnenuntergang parodierte, der hinter den Skeletten des Baumbestandes, zwischen Nebel und Frost, blutrot war.

Samstag, 13. Mai 2023

 DIE MÜHLE MIT DER UHR

 

Georges Eekhoud

DIE MÜHLE MIT DER UHR


Und das Wort ist Fleisch geworden.

Ich weiß eine Mühle, die den Schändlichen das Brot der Buße mahlt.

Keine Flügel, die sich im gesunden, kalten Wind der Weite tummeln. Nichts von der Mühle mit dem kapuzenartigen Spitzdach, über das die schönen Mädchen ihre weißen Hauben werfen,- nichts von der Mühle, die auf der Anhöhe oder dem Deich steht und zusieht, wie die Ernte wächst und die Flut einsetzt;- nichts von der romantischen Mühle, der Wassermühle der Balladen, die ihre Schaufeln in wilde Wasserfälle taucht und mit einem gutmütigen Donnergrollen spritzt;- nichts von der Bergmühle, die Gaves und Bäche in Schaum verwandelt, der weißer als Mehl ist. Nie gehen bergamaskische Müller mit einem Sack über der Schulter fröhlich den Weg dorthin; nie kokettieren die hübschen Müllerinnen, die von einem eifersüchtigen Müller geplagt werden, mit den schrillen Maultierjägern..... Nein, es ist die schlimmste Mühle von Sans-Souci, denn worüber sollten sich die patentierten und unverrückbaren Canapsas Sorgen machen?

Ich kenne eine pulsierende, krampfhafte Uhr, eine Uhr, die sich wie eine Seele abmüht und die Zeit anzeigt, exklusiv und besonders für unfreiwillige Trappisten, die ihre Zeit und ihre Arme subversiv einsetzten.

Die Bewegung der Uhr und die Bewegung der Mühle gehen ineinander über und schlagen das gleiche Ticken. Es ist Mehl, das durch diese schicksalhafte Sanduhr fließt. Uhr und Mühle sind eins.

Vor fünf Jahren habe ich diese Uhrmühle gesehen, und seitdem kann ich sie nicht vergessen, und seitdem hat mein Brot aus unverdächtigem Mehl einen unauslöschlichen bitteren Geschmack von Tränen und Schweiß angenommen, und seitdem schlagen alle meine Stunden auf dem Zifferblatt der Unregelmäßigen, und wie ein Wrack treibe ich im Wasser.....

Ich weiß von einer unheimlichen Mühle, die von inkompatiblen, erdgrauen und wilden Unterhosen bedient wird, die wie stinkende Tiere aussehen.

Da die Gesellschaft es nicht wagt, sie zu zerstören, sind sie seltsam. Sie sind jung, üppig, lebenslustig, aber für den Rest ihres Lebens behindert. Es gibt keinen wirksamen Täufer, der ihnen eine neue gesetzliche Jungfräulichkeit verleiht. Es gibt kein lustvolles Wasser, das lenitativ genug ist, kein ätzendes Regalwasser, das ihre Stigmata reinigt. Und die Ansteckung mit ihren Schandtaten ist so groß, dass ihre Erlöser zu ihren Komplizen werden.

Die Handhabung ist einzigartig! Unnatürliche Müller, die nur den Weizen für ihr eigenes Brot mahlen!

Seit meiner Geburt habe ich mich an vielen Geräten erfreut, viele Grabbeigaben, Geräte und Werkzeuge entdeckt, die verwerflicher und tödlicher sind als echte Waffen, oft bin ich durch Werkstätten gegangen, die wie Arsenale oder Folterfelder aussahen, aber nichts hat mich so verwirrt wie diese Mühle, deren wimmelnde Reinheit mich verfallen ließ.....

Hat mein Reiseführer meinen Eindruck vorweggenommen? Er nutzte rednerische Vorsichtsmaßnahmen und ging äußerst behutsam vor, bevor er mich zu dieser ultimativen Szene des Ilotismus führte. Der würdige Mann bereitete mich darauf vor, wie auf die Nachricht einer Katastrophe. Es heißt, dass alle, die in der gleichen Hölle saßen, bleich und besiegt aus ihr herauskamen. Was würde unter diesen Umständen mit mir geschehen?

Dienstag, 9. Mai 2023

Callaghan


Der eilige Henker
von
Peter Cheyney

Ursprünglich veröffentlicht bei:

 W.M. Collins Sons & Co. Ltd.,
London, 1938

 Neu-Übersetzung 2023

 

 Kapitel 1 - VORSTELLUNG VON CALLAGHAN

 CALLAGHAN bog um die Ecke in die Chancery Lane. Ein kalter Windstoß kam ihm entgegen, wehte die Klappen seines nicht ganz sauberen Regenmantels zurück und ließ den Regen durch seine fadenscheinigen Hosenbeine laufen.

Er war fünf Fuß zehn und dünn. Er hatte sieben halbe Pence und einen starken Raucherhusten. Seine Arme waren ein wenig zu lang für seine Größe und sein Gesicht war überraschend.

Es war die Art von Gesicht, die man sich zweimal ansieht, falls man sich beim ersten Mal geirrt hat. Die Augen lagen weit auseinander über einer langen, ziemlich dünnen Nase. Sie hatten eine helltürkise Farbe und blinzelten nur selten. Sein Gesicht war lang und sein Kinn spitz. Er war glatt rasiert und die Frauen mochten die Form seines Mundes aus Gründen, die sie selbst am besten kennen.

Abgesehen von seinem Gesicht sah er aus wie jeder andere in London. Seine Kleidung war gewöhnlich und anständig gepflegt. Seine Schuhe waren schlecht und einer von ihnen musste geflickt werden. Callaghan war nicht geneigt, über solche Kleinigkeiten nachzudenken. Im Moment beschäftigte ihn die Frage der Büromiete.

Der Regen hatte bereits die Krempe seines weichen schwarzen Hutes durchnässt und einen feuchten Grat um seine Stirn gebildet. Sein dickes schwarzes zerzaustes Haar unter dem Hut war nass.

Als er um die Ecke bog, schoss ein Bus, der aus Holborn kam, einen Strom von wässrigem Schlamm über seine Schuhe.

Er ging schnell weiter, im Windschatten des Tresors auf der linken Seite der Chancery Lane. Er tastete in der Tasche seines Regenmantels nach dem Päckchen von Player's, holte es hervor, fand es leer und warf es weg. Er begann zu fluchen, leise, fließend und methodisch. Er fluchte, als ob er es ernst meinte, holte das Beste aus jedem Wort heraus und fand eine gewisse Befriedigung, wenn ihm ein Wort einfiel, das er vorher noch nicht benutzt hatte.

Auf halbem Weg durch die Chancery Lane bog er in die Cursitor Street ein, lief zwanzig Meter die Straße hinunter, bog in einen Durchgang und dann in eine Tür ein. Er stieß die Haustür auf und begann, die Treppe hinaufzusteigen, vorbei am zweiten und dritten Stockwerk bis zum vierten.

Dort blieb er vor einer ziemlich schmutzigen Tür mit einer Milchglasscheibe stehen, auf der 'Callaghan. Privatdetektei.' Er hörte auf zu fluchen, als er sah, dass es in dem Büro Licht gab.

Er steckte den Schlüssel zurück in die linke Tasche seines Regenmantels und stieß die Tür auf. Er trat in ein mittelgroßes Vorzimmer.

Effie Perkins stand vor dem Schreibmaschinentisch am Fenster auf der linken Seite. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und strich sich mit langen, weißen, gepflegten Fingern ihr rotes Haar zurecht. Als sie sich umdrehte, warf Callaghan ihr einen dieser Blicke von oben nach unten zu, der alles umfasste, von den zehn Zentimeter hohen Absätzen bis zum knappen, eng anliegenden Rock, und dann nach oben zu den grünen Augen, die sich mit seinen trafen.

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