Die Mission und der Zweck dieser Seite, die zu einem Verbund von insgesamt 35 Websites gehört, ist es Benutzern ein kostenloses Erlebnis zu bieten! Um diese Mission zu erfüllen, müssen wir als Herausgeber und Betreiber neben der Bereitstellung der Beiträge, die verbundenen Websites sicher halten, eine komplexe Serverinfrastruktur warten, Quelltext regelmäßig aktualisieren, Fehler beheben und neue Funktion entwickeln. Das alles ist nicht billig und erfordert talentierte Softwarebetreuer sowie eine robuste Infrastruktur. Deswegen bitten wir Sie, uns zu unterstützen. Wenn Sie von unserer Website profitieren und uns unterstützen wollen, dann denken Sie bitte darüber nach, eines oder mehrere der außergewöhnlichen Bücher zu kaufen, die hier präsentiert werden. Auf diese Weise erhalten wir eine kleine Provision, die uns hilft, unseren Webseitenverbund am Laufen zu halten.

Freitag, 29. Dezember 2023

Die Spinne

 

Die Spinne

Von Hanns Heinz Ewers

Als der Student der Medizin Richard Bracquemont sich entschloß, daß Zimmer Nr. 7 des kleinen Hotel Stevens, Rue Alfred Stevens 6, zu beziehen, hatten sich in diesem Raume an drei aufeinanderfolgenden Freitagen drei Personen am Fensterkreuz erhängt.

Der erste war ein Schweizer Handlungsreisender. Man fand seine Leiche erst Samstag abend; der Arzt stellte fest, daß der Tod zwischen fünf und sechs Uhr Freitag nachmittags eingetreten sein müsse. Die Leiche hing an einem starken Haken, der in das Fensterkreuz eingeschlagen war und zum Aufhängen von Kleidungsstücken diente. Das Fenster war geschlossen, der Tote hatte als Strick die Gardinenschnur benutzt. Da das Fenster sehr niedrig war, lagen die Beine fast bis zu den Knien auf dem Boden; der Selbstmörder mußte also eine starke Energie in der Ausführung seiner Absicht betätigt haben. Es wurde weiter festgestellt, daß er verheiratet und Vater von vier Kindern war, sich in durchaus gesicherter und auskömmlicher Lebensstellung befand und von heiterem, fast stets vergnügtem Charakter war. Irgend etwas Schriftliches, das auf den Selbstmord Bezug hatte, fand man nicht vor, ebensowenig ein Testament; auch hatte er keinem seiner Bekannten gegenüber jemals eine dahingehende Äußerung getan.

Nicht viel anders lag der zweite Fall. Der Artist Karl Krause, als Fahrradverwandlungskünstler in dem ganz nahe gelegenen Cirque Médrano engagiert, bezog das Zimmer Nr. 7 zwei Tage später. Als er am nächsten Freitag nicht zur Vorstellung erschien, schickte der Direktor den Theaterdiener in das Hotel; dieser fand den Künstler in dem nicht verschlossenen Zimmer am Fensterkreuz erhängt vor, und zwar unter den durchaus gleichen Umständen. Dieser Selbstmord schien nicht weniger rätselhaft; der beliebte Artist bezog recht hohe Gagen und pflegte, ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann, sein Leben in vollen Zügen zu genießen. Auch hier nichts Schriftliches, keinerlei verfängliche Äußerungen. Die einzige Hinterbliebene war eine alte Mutter, der ihr Sohn pünktlich an jedem Ersten zweihundert Mark für ihren Lebensunterhalt zu schicken pflegte.

Freitag, 22. Dezember 2023

Die verdächtigen Schritte

 


Gilbert Keith Chesterton

 Die verdächtigen Schritte

Wenn du einmal ein Mitglied jenes auserlesenen Klubs »Die zwölf echten Fischer« triffst, das anläßlich des jährlichen Klubdiners das Vernon-Hotel betritt, wirst du, wenn er seinen Überzieher abnimmt, bemerken, daß sein Frack grün und nicht schwarz ist. Wenn – vorausgesetzt, daß du die unerhörte Kühnheit hast, solch ein Wesen anzusprechen – du ihn nach dem Grunde fragst, wird er wahrscheinlich antworten, es geschehe das, um eine Verwechselung mit dem Kellner zu vermeiden. Du wirst dann ganz niedergeschmettert weggehen, aber auch ein ebenso ungelöstes Geheimnis wie eine erzählenswerte Geschichte hinter dir lassen.

Wenn – um denselben Faden unwahrscheinlicher Mutmaßung weiterzuspinnen – du dann einen milden, hart arbeitenden, kleinen Priester namens Father Brown treffen und ihn fragen solltest, was er für den eigenartigsten Zufall seines Lebens halte, würde er wahrscheinlich antworten, daß im ganzen genommen er seinen besten Streich im Vernon-Hotel vollführt habe, wo er einfach dadurch ein Verbrechen verhindert und vielleicht auch eine Seele gerettet habe, daß er ein paar Schritten auf einem Gange gelauscht hatte. Vielleicht ist er ein klein wenig stolz auf diese seine kühne und wunderbare Mutmaßung, und es ist möglich, daß er darauf zu sprechen kommt. Nachdem es jedoch ziemlich unwahrscheinlich ist, daß du jemals hoch genug in der Gesellschaft steigen wirst, um auf einen der »Zwölf echten Fischer«, oder je so tief bis zu den verrufenen Vierteln und Verbrechern hinabsinken wirst, um auf Father Brown zu stoßen, fürchte ich, wirst du überhaupt nie die Geschichte vernehmen, wenn nicht von mir.

Freitag, 15. Dezember 2023

HELDEN STERBEN SCHWER


 


 von HENRY GADE


Der Kutter "Wallace" der Küstenwache wurde als durch
Feindeinwirkung. Wie konnte sie dann einem Schwesterschiff helfen?

DER Kutter Bertram der Küstenwache der Vereinigten Staaten pflügte durch die schwarzen Täler des Nordatlantiks. Das Wasser, das über die Reling brach, gefror in frostigen, weißen Schichten auf dem Deck und schweißte die Wasserbomben zu einem festen Eisklumpen zusammen. Es war nach Mitternacht. Auf der Steuerbordseite kämpften die schwerfälligen Tramps und die schnittigen neuen Frachter des Konvois darum, Schritt zu halten. Die See war so rau, dass die Sternschalen nur endlose, rollende Wasserberge zeigten. Sie verbargen den Konvoi sowohl vor freundlichen als auch vor feindlichen Augen.

Irgendwo wartete das Wolfsrudel. U-Boote, die bereit waren, den Tod aus ihren Schnauzen zu schießen, sobald sie sich im Schutz der Dunkelheit hineinschleichen und eine fette Beute der Handelsmarine abgreifen konnten.

Kapitän Wells Arthur von der Bertram kam in seinen schweren, mit Schafsfell gefütterten Stiefeln und seinem Helm an Bord. Eine Pfeife, kurz und gut gekaut, hing aus seinem Mund. Seine Augen funkelten zwar, aber sie hatten den harten Blick eines Mannes, der seit Monaten auf den Nordmeeren kämpfte und bisher jede Schlacht gewonnen hatte.

Die Bertram lief schwer nach Backbord und fuhr im Zickzackkurs am äußeren Rand des Konvois entlang. Etwa eine halbe Meile entfernt setzte ein Blinkersignal seine Lichtbotschaft in die Leere. Kapitän Wells Arthur fand seinen Weg auf die Brücke. Er steckte die Pfeife in seine Tasche und wartete, bis die Signalmänner mit ihrer Arbeit fertig waren. Der Wind heulte um ihn herum, als ob das Meer sich über die Einmischung des Menschen ärgern würde.

Ein rotgesichtiger, gut gepolsterter Mann wandte sich von der Signallampe ab. Er grinste Kapitän Arthur an, beugte sich dicht an sein Ohr und brüllte laut über den Sturm hinweg.

Freitag, 8. Dezember 2023

ALLE ARTEN VON MENSCHEN

von  LEROY YERXA


SAMUEL S. BLACK hörte auf, das Skript zu lesen, das er in gemächlichem Tempo durchgelesen hatte, und griff zum Telefon.

"Ja! Was gibt es?"

Tillie Compton, die Telefonistin von Black-Publications, Incorporated, meldete sich mit einer vermeintlich frischen, jungen Stimme:

"Ein Mr. Flitt möchte Sie sprechen, Mr. Black." Das war alles sehr förmlich von Tillie, denn normalerweise nannte sie Samuel S. Black bei seinem Spitznamen. "Pinky" und setzte sich sogar auf sein Knie, wenn es der Anlass erforderte.

"Flitt-Flitt? Kennen wir jemanden namens Flitt?"

Er hörte Tillie seufzen. Samuel S. Blacks Gedächtnis war manchmal getrübt durch die Unmengen von "Matsch", durch die er sich wühlen musste, um eine vorzeigbare Geschichte für Horrible Tales zu finden.

Tillies Stimme war sanft, aber mit einem Hauch von Sarkasmus gewürzt.

Freitag, 1. Dezember 2023

Spleen

 


Spleen

 von Maurice Leblanc

Von seiner Jugend an bemühte sich Sir Arthur Burton, seinem Leben irgendeinen Zweck zu geben, wie seltsam dieser auch sein mochte. Er war sehr reich und versuchte mühsam, sein Vermögen mit neuen Mitteln zu verschwenden. Er wollte sich einen Ruf als Exzentriker erwerben, doch aufgrund seiner kurzen Vorstellungskraft gelang ihm das nicht. Er fühlte sich banal, bürgerlich und bodenständig.

Als er schließlich entmutigt war, ahmte er einen seiner Landsleute nach und wettete, dass er den Tod des Dompteurs Néros miterleben würde. Nach drei Jahren hartnäckiger Verfolgung sah er, wie der Löwe Brutus mit einem Prankenhieb den Schädel seines Herrn aufschlitzte.

Das Leben begann wieder unerträglich. Er verglich die Monotonie der Gegenwart mit den vielfältigen Freuden, die er früher empfunden hatte, wenn er dem Dompteur von Stadt zu Stadt gefolgt war, mit der köstlichen Angst, die ihn während des Kampfes umklammerte. Dann liebte er diese Tiere mit dankbarer Zuneigung. Jedes von ihnen hielt in seinem Maul und in seinen Klauen ein Stück seines Fleisches und seiner Gedanken. Die Gewohnheit hatte sie zu Kameraden gemacht, die einzigen, die die dicke Kruste seines Egoismus durchbrochen hätten.

Freitag, 24. November 2023

Colydor

 

 von

Alphonse Allais

Sein Pate, ein besessener Baumschulbesitzer aus Meaux, bestand darauf, dass er, wie er selbst, Polydore genannt wurde. Aber wir, seine Freunde, fanden den Namen Polydore ziemlich lächerlich und gaben dem guten Kerl schnell den Spitznamen Colydor, der viel hübscher, wohlklingender und suggestiver war.

Er selbst war begeistert von diesem Namen, und auf seinen Visitenkarten stand kein anderer. Ebenso konnte man in schöner Gotik "Colydor" auf dem Kupferschild an der Tür seiner kleinen Erdgeschosswohnung im fünften Stock in der Rue de la Source in Auteuil lesen.

Er bestand nur darauf, dass man seinen Namen so schrieb, wie ich es getan habe: mit einem einzigen L, einem Y und ohne E am Ende.

Respektieren wir diese harmlose Marotte.

Ich habe in meinem Leben viele seltsame Gestalten gesehen, aber die seltsamsten von allen schienen mir im Vergleich zu Colydor blass.

Jemand, ich glaube es war Victor Hugo, nannte Colydor den sympathischen Anführer der "Loufoque"-Schule, und er hatte absolut recht.

Jedes Mal, wenn ich Colydor sehe, zittert mein ganzes Wesen vor Freude bis in die tiefsten Fasern.

"Ah, da ist Colydor, ich werde mich nicht langweilen", denke ich mir.

Eine Vorhersage, die nie enttäuscht wurde.

Gestern besuchte mich Colydor.

Freitag, 17. November 2023

Das tödliche Autogramm

von

Alphonse Allais

Ich war für einige Monate von Paris abwesend, da ich eine Erkundungsreise in die Nordwestregion von Courbevoie unternommen hatte.

Als ich nach Paris zurückkehrte, stapelten sich Briefe auf dem Schreibtisch meines Arbeitszimmers; darunter auch einer mit schwarzem Rand.

So erfuhr ich mit schmerzlichem Erstaunen vom Tod meines armen Freundes Bonaventure Desmachins, der im Alter von 28 Jahren verstorben war.

"Wie kann das sein?", rief ich aus. "Desmachins! Ein so gesunder, kräftiger junger Mann!"

Doch als ich einige Stunden später erfuhr, woran Desmachins gestorben war, verwandelte sich mein schmerzliches Erstaunen in solches Staunen, dass ich fast umgefallen wäre.

"Wie kann das sein?", rief ich erneut. "Desmachins! Ein so besonnener, tugendhafter Mann!"

Tatsächlich schien die Sache unglaublich.

Armer Desmachins! Ich erinnere mich noch, wie ruhig, gepflegt und geordnet er immer war.

Er hatte sicherlich seine kleinen Macken, aber wer hat die nicht?

Zum Beispiel hätte er für alles Geld der Welt keine Briefmarke woanders als bei der "Civette du Théâtre-Français" gekauft. Er behauptete, dass er durch den Kauf dort erheblich bei den Portokosten sparte, da die Briefmarken von der Civette trockener und daher leichter waren und die Korrespondenz weniger belasteten.

Eine harmlose Macke, nicht wahr?

Freitag, 10. November 2023

Königlicher Schmierstoff


von

Alphonse Allais

Es ist in der französischen Armee üblich, sich über den Tross lustig zu machen. Über solche Spötteleien erhaben lassen die guten Tross-Soldaten solche Bemerkungen an sich abprallen, wissend, dass letztlich nur im Königlichen Schmierstoff jeder Pferde und Wagen hat.

Pferde und Wagen! Diese Aussicht bewegte den jungen Gaston de Puyrâleux dazu, sich für fünf Jahre in dieser Eliteeinheit zu verpflichten.

Bevor er zu dieser Entscheidung kam, hatte Gaston es für richtig gehalten, zwei oder drei Vermögen in der Zeit zu verschwenden, die die Sahara braucht, um den Inhalt einer kleinen Gießkanne in der Mittagshitze zu absorbieren.

Spiel, Tipps, Damen, kleine Partys und die große Party hatten den jungen Puyrâleux bis aufs Mark ausgenommen. Dennoch trat er fröhlich und ohne Bedauern dem 112. Tross-Regiment in Vernon bei.

Ein optimistischer Philosoph, dieser Gaston, mit dem Motto: "Das Leben ist, wie man es gestaltet".

Und er sorgte dafür, dass sein Leben lustig war, ständig lustig, trotz allem.

Er liebte Wagen und war verrückt nach Pferden, so war es für Puyrâleux keine große Leistung, der Beste unter den Tross-Soldaten zu werden.

Seine sprichwörtliche Geschicklichkeit wurde schnell legendär: Er hätte den größten Konvoi durch das Auge einer Nadel geführt, ohne die Seiten zu berühren.

Vernon ist von reizvollen Landschaften umgeben, aber als Stadt ist es eher unattraktiv. Um nur ein Detail zu nennen, es fehlt an Frauen, und wie! An Frauen, die diesen Namen verdienen, verstehen Sie?

Freitag, 3. November 2023

Luminara: Wo Licht Legende wird und Helden geboren werden!

 

(Die Helden von Luminara)

von Anonym

In einem Land, weit entfernt von unserer bekannten Welt, lag das Königreich Luminara. Luminara war bekannt für seine schimmernden Seen, majestätischen Berge und leuchtenden Wälder. Doch das Besondere an Luminara war nicht seine atemberaubende Landschaft, sondern seine Bewohner: die Lumis. Die Lumis waren Wesen aus purem Licht, die in der Lage waren, die Energie der Sonne zu nutzen, um Magie zu wirken.

König Solarius regierte Luminara mit Weisheit und Güte. Er war ein gerechter Herrscher, der das Wohl seines Volkes immer an erster Stelle sah. Doch eines Tages wurde das Königreich von einer dunklen Macht bedroht. Ein Schattenwesen namens Nocturnus wollte die Energie der Lumis stehlen und die Welt in ewige Dunkelheit stürzen.

Nocturnus hatte eine Armee von Schattenkreaturen erschaffen, die das Land überfielen und Chaos verbreiteten. Die Lumis waren verzweifelt, denn ihre Magie schien gegen diese dunklen Wesen machtlos zu sein. König Solarius wusste, dass er etwas unternehmen musste, um sein Königreich zu retten.

In einer sternenklaren Nacht hatte er eine Vision. Eine alte Legende erzählte von einem Kristall, dem "Herz von Luminara", das die Macht besaß, die Dunkelheit zu vertreiben. Doch dieser Kristall war seit Jahrhunderten verschollen. Solarius beschloss, eine Gruppe von mutigen Lumis auf eine gefährliche Reise zu schicken, um den Kristall zu finden.

Die Gruppe bestand aus Luna, einer jungen Magierin mit einer besonderen Verbindung zur Mondenergie; Orion, einem tapferen Krieger, der mit dem Licht der Sterne kämpfte; und Aurora, einer Heilerin, die die Farben des Nordlichts nutzen konnte, um Wunden zu heilen.

Ihre Reise führte sie durch dunkle Wälder, über hohe Berge und tiefe Täler. Sie begegneten vielen Gefahren, doch mit Mut und Zusammenhalt überwanden sie jedes Hindernis. Schließlich erreichten sie eine geheime Höhle, in der der Kristall verborgen war. Doch Nocturnus hatte von ihrer Mission erfahren und stellte ihnen eine Falle.

In einem epischen Kampf stellten sich die Lumis den Schattenkreaturen entgegen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Nocturnus zu besiegen und den Kristall zu sichern. Mit seiner Macht erstrahlte Luminara wieder in vollem Glanz, und die Dunkelheit wurde vertrieben.

Die Lumis feierten ihre Helden und das Königreich erlebte eine Zeit des Friedens und des Wohlstands. König Solarius dankte der mutigen Gruppe und ernannte sie zu den Wächtern von Luminara. Sie schworen, das Königreich und den Kristall für immer zu beschützen.

***

Freitag, 27. Oktober 2023

Liebschaften an Zwischenstopps

 

 von ALLAIS, ALPHONSE

 Kapitän Mac Nee, besser bekannt in der schottischen Marine als Kapitän Steelcock, war das, was man einen gestandenen Kerl nennt. Ein charmanter Kerl, aber ein grober Kerl. Er maß sechs englische Fuß und zwei Zoll, was in unserem metrischen System etwas über zwei Meter entspricht. Äußerst elegant, undurchdringlich wie die Nelson-Statue, liebte er Frauen so sehr, dass er die grundlegendsten Pflichten vergaß. Steelcock war einer der wenigen Männer in der schottischen Marine, die ein Monokel mit so viel Überzeugung trugen. Die Männer der Topsy-Turvy, ein hübsches Dreimast-Schiff, das er nach Gott befehligte, behaupteten sogar, er würde damit schlafen. Niemand an Bord der Topsy-Turvy erinnerte sich daran, Steelcock jemals in etwas involviert zu sehen, das wie ein Befehl oder Manöver aussah. Mit den Händen hinter dem Rücken, immer elegant gekleidet, unabhängig vom Wetter, schlenderte er auf dem Deck seines Schiffes, mit dem gelassenen und entspannten Ausdruck, den die Gentlemen von Edinburgh in der Princes-Street annehmen. 

Freitag, 20. Oktober 2023

DIE STRASSE DER VIER WINDE


 

ROBERT W. CHAMBERS

 

DIE STRASSE DER VIER WINDE
 

"Schließe deine Augen halb,
Verschränke deine Arme über deiner Brust,
Und aus deinem schlafenden Herzen
Verscheucht für immer alle Pläne."
 
"Ich singe von der Natur,
Die Sterne des Abends, die Tränen des Morgens,
Die Sonnenuntergänge am fernen Horizont,
Der Himmel, der zum Herzen von zukünftiger Existenz spricht."


I


Das Tier hielt auf der Schwelle inne, fragend und wachsam, bereit zur Flucht, falls nötig. Severn legte seine Palette ab und streckte eine Hand zur Begrüßung aus. Die Katze blieb regungslos stehen, ihre gelben Augen waren auf Severn gerichtet.

"Kätzchen", sagte er mit seiner tiefen, angenehmen Stimme, "komm herein."

Die Spitze ihres dünnen Schwanzes zuckte unsicher.

"Komm herein", sagte er erneut.

Offenbar empfand sie seine Stimme als beruhigend, denn sie ließ sich langsam auf allen Vieren nieder, die Augen immer noch auf ihn gerichtet, den Schwanz unter ihre mageren Flanken geklemmt.

Er erhob sich lächelnd von seiner Staffelei. Sie musterte ihn ruhig, und als er auf sie zukam, sah sie zu, wie er sich ohne mit der Wimper zu zucken über sie beugte; ihre Augen folgten seiner Hand, bis sie ihren Kopf berührte. Dann stieß sie ein schroffes Miauen aus.

Severn hatte schon lange die Angewohnheit, sich mit Tieren zu unterhalten, wahrscheinlich weil er so viel allein lebte, und jetzt sagte er: "Was ist los, Kätzchen?

Ihre ängstlichen Augen suchten die seinen.

"Ich verstehe", sagte er sanft, "du sollst es sofort haben."

Freitag, 13. Oktober 2023

Die unzerstörbare Illusion


 Maurice Leblanc

Die unzerstörbare Illusion

 Das Leben war ihnen nicht wohlgesonnen. Der von Marescaux veröffentlichte Band mit Versen und die von Chancerel in den Zeitungen gestreuten philosophischen Maximen hatten ihnen keinen literarischen Ruhm eingebracht. Liebe kannten sie nur in Form von kurzen Affären, die ohne Eifer geknüpft und ohne Bedauern gelöst wurden. Um Vergnügen kümmerten sie sich nicht mehr.

"Ein ausgetrocknetes Herz, eine erloschene Fantasie, gleichgültige Sinne und das nahende Alter - das ist die aktuelle Bilanz", sagten sie zueinander.

Diese gemeinsame Ernüchterung brachte sie einander näher. Sie aßen jeden Tag gemeinsam zu Abend. Und vor dem Schlafengehen wanderten sie umher und überhäuften das Leben mit bitteren Schimpfwörtern. Ihre Naturen unterschieden sich jedoch in einigen Punkten. Marescaux, der Dichter, war ein Träumer und respektierte die alten Überzeugungen unserer Vorfahren. Chancerel, der Philosoph, war ein scharfer Beobachter und akzeptierte nur Dinge, die unbestreitbar waren. Aber wenn ihre Meinungen aufeinanderprallten, lächelten sie gleichgültig. Wozu sollte das gut sein? Wozu sich erhitzen! Nichts ist die Mühe eines Streits wert.

Eines Abends sagte Marescaux mit bewegter Stimme:

- Mein Lieber, was mir passiert ist, ist erstaunlich. Ich bin fast verliebt ... Eine Frau, die ich bei Kleinbürgern kennengelernt habe ... Eine Blondine ... ja, ziemlich blond und nicht sehr groß ... weiche und nachdenkliche Gestalt. Wir haben uns viel unterhalten und ich habe eine exquisite Seele entdeckt, eine seltene Seele, die eine Schwester der meinen ist.

Chancerel lachte; aber am übernächsten Tag war er es, der nervös ausrief:

- Nun, ich habe auch meine Affäre, und ich verstehe nichts davon. Noch nie hat mich eine Frau so verwirrt wie die, die ich heute in einem Salon gesehen habe ... Ein strenges Gesicht einer Brünetten ... hochmütige Haltungen ... eine klare, deutliche, substanzielle Unterhaltung ... Es hat nicht lange gedauert ... Sie hat mir gesagt, dass sie mich mochte, wie eine Society-Lady, die weiß, was sie tut.

Von nun an hielt jeder von ihnen den anderen über seine Intrige auf dem Laufenden. Die Freundin des Dichters war mit einem Handelsreisenden verheiratet, der immer abwesend war. Sie lebte in einer kleinen, einfachen Wohnung mit intimen Räumen. Sie lebte dort allein, lag oft in träumerischen Posen, blickte undeutlich und hatte ihr blondes Haar über die Schultern gestreut.

- Sie wehrt sich, und ich drücke sie nicht zu sehr. Der Klang ihrer Stimme, der Duft ihres Wesens, alles Freuden, die es mir ermöglichen, auf die höchste Freude zu warten. Was für ein köstliches Geschöpf, das aus Poesie und Zärtlichkeit und Vertrauen besteht!

Der Philosoph konterte:

Freitag, 6. Oktober 2023

Ein schreckliches Geheimnis


 

Maurice Leblanc

Ein schreckliches Geheimnis

 Das war der beliebteste Zeitvertreib an hässlichen Oktobertagen, wenn sich die jungen Männer und Frauen bei strömendem Regen und schlammigen Wegen nicht nach draußen wagten. Man lud Herrn de Fourmel, den ehemaligen Staatsanwalt, zum Abendessen ein und nach dem Essen bat man ihn, etwas über seinen Beruf zu erzählen.

Er war der Beste. Seine tragische Maske eines 80-Jährigen, seine heisere, keuchende Stimme und seine glühenden Augen, die hinter den dicken Augenbrauen verborgen waren, ließen die Zuhörer schon im Voraus erschauern. Die Art und Weise, wie er erzählte, versetzte sie in Angst und Schrecken.

Mit der Zeit erschöpfte sich sein Repertoire. Die Anekdoten wurden immer weniger interessant. Es kam sogar vor, dass er nichts mehr zu sagen hatte. Eines Abends musste er es gestehen:

- Meine kleinen Freunde, es tut mir leid, aber ich bin am Ende meiner Kräfte.

Die Proteste wurden lauter. Man umringte ihn. Die Herren falteten die Hände. Die Damen umarmten ihn. Er wurde so lange gequält, bis er scheinbar einwilligte. Schließlich, nach einigen Minuten des Nachdenkens, entschied er sich.

- Das ist meine letzte Geschichte, meine Kinder. Ihr selbst werdet übrigens keine Lust mehr haben, mich um eine weitere zu bitten. Es ist ein beängstigendes Drama, etwas Fantastisches und Schreckliches, das jede Vorstellungskraft übersteigt. Es ist fünfzig Jahre her, dass es sich ereignet hat, zu Beginn meiner Karriere in der Provinz. Die Zeitungen berichteten damals nicht wie heute über die Verbrechen, und die Tat ist kaum bekannt. Seitdem habe ich nie mehr darüber gesprochen, weil mich die Erinnerung daran so sehr beeindruckt. Meine Augen, hören Sie gut zu, meine Augen haben alles gesehen!

Und in abgehackten Sätzen, mit sehr leiser Stimme, so leise, dass man kaum etwas hören konnte, begann er:

Freitag, 29. September 2023

Die Wette

 


Maurice Leblanc

Die Wette

 Man fand die drei schrecklich verstümmelten Leichen. Der Kopf der Mutter war nur noch am Hals mit dem Rumpf verbunden. Anstelle der Brust hatten die beiden Mädchen ein klaffendes Loch. Alle drei Körper waren vom Schädel bis zu den Füßen mit Wunden übersät. Auf dem Fußboden gammelten Bäche und Pfützen von Blut.

Das Merkwürdigste ist, dass man in den Schränken rechts und links alles Geld, allen Schmuck und alle wertvollen Kleinigkeiten fand. Da Diebstahl nicht das Motiv für das Verbrechen war, durchsuchte man die Vergangenheit der unglücklichen Frauen.

Nach mehreren Nachforschungen wurde festgestellt, dass die ältere der beiden Töchter sich gerade verlobt hatte und dass der junge Mann am Abend des Verbrechens bei den Damen zu Abend gegessen hatte. Warum verschwieg dieser Mensch der Justiz so schwerwiegende Details?

Freitag, 22. September 2023

Die Beichte von Tante Lydie

 


Maurice Leblanc

Die Beichte von Tante Lydie

 Das Geräusch eines Sturzes ertönte. Ich rannte hin. Tante Lydia lag auf dem Rücken und war lila im Gesicht.

Ich eilte zu ihr. Sie stöhnte mit undeutlicher Stimme:

- Ein Priester ... Ich möchte ... beichten ...

Verzweifelt erklärte ich ihr, dass meine Eltern auf dem Markt waren, dass der Hof verlassen und das Dorf weit weg war. Sie flüsterte hartnäckig: "Ein Priester ... ein Priester ...".

Ich renne wie ein Verrückter weg.

Hätte ich einen anderen Pfarrer als Abbé Douillart, meinen Nachhilfelehrer in französischer Grammatik, gekannt, hätte mich mein kindlicher Instinkt gewiss zu diesem anderen geführt.

Aber er war ein guter Mann! Sein großer, dicker Puppenkopf mit den krausen Haaren und der rosigen Haut erinnerte an die pausbäckigen Amoretten, die man auf den Rückseiten alter Bücher sieht. Er aß und trank viel. In der Umgebung gab es kein Festmahl, zu dem er nicht eingeladen wurde. Nach dem Essen erzählte er unter Männern, mit einem Fläschchen Wein vor sich, von seinen Schandtaten. So viele kleine Gläser, so viele Geschichten. Man wusste es, und wenn er sich mit hochgezogener Soutane auf einen Stuhl setzte, füllte einer der Anwesenden sein Glas. Er leerte die Hälfte, erzählte seine Anekdote und rief uns dann, nachdem er ausgetrunken hatte, zu:

- Nun, meine Brüder, was haltet ihr von dieser?

Was für ein Kontrast zu Tante Lydie, wie ich sie geahnt hatte, wie sie vor allem meine Eltern mir seitdem geschildert hatten!

Ich weiß nicht genau, was diese trockene und fromme alte Jungfer dazu bewogen hatte, ein paar Tage bei uns auf dem Land zu verbringen. Jedes Jahr lehnte sie unsere Einladung ab und zog das Reiben der Soutane oder das Gackern unter den Hörnern der Nonnen allen Vergnügungen vor. Außerdem mochte sie meinen Vater nicht, weil er die Religion verspottete, und meine Mutter mochte sie nicht, weil sie ihren Mann mit einer zu demonstrativen Zuneigung verehrte. Ihr Verhalten war von zwei Prinzipien geprägt: blinder Glaube an die kleinsten Äußerungen der Diener Gottes und ihre strenge Tugend und Hass auf die Liebe, die sie nicht kannte.

 

Als ich vor dem Pfarrhaus ankam, klingelte ich so laut, dass die Klingel abriss. Félicie, ein kleines Hausmädchen, öffnete mir die Tür.

Freitag, 15. September 2023

Das Schafott

 

Maurice Leblanc

Das Schafott

 Der Mann verließ die Couch, auf der er lag, nahm einen Kerzenhalter und stellte sich vor den Spiegel. Dort schob er die Kleidung beiseite, die seine Brust verdeckte, und suchte mit dem Finger nach der Stelle, an der sein Herz schlug. Er spürte, dass es in unregelmäßigen Schüben hüpfte. Er nahm eine Stecknadel und ritzte sich die Haut an der Stelle auf, wo er den Zeigefinger hingelegt hatte.

Dann ging er zum Fenster, öffnete es und ging langsam die Holzgalerie entlang, die die Fassade seiner Hütte säumte.

Der Regen hatte aufgehört. Es war eine milde und ruhige Nacht. Aus dem Lorbeer- und Gummibaumbeet unter dem Balkon und dem großen Rasen mit den dunklen Beeten stieg ein nasser Geruch auf. Tropfen fielen mit einem kühlen, stetigen Geräusch von Blatt zu Blatt.

Er lehnte sich an die Balustrade. Und er atmete die starke Luft ein, sog mit seiner ganzen Brust, mit all seinen Sinnen den Zauber dieser Sommernacht ein.

Ein Verlangen kam in ihm auf. Er holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche, dann eine Zigarette und zündete sie an. Dann machte er ganz leise:

- Die letzte!

Er fand sie wohl gut, denn er rauchte sie in langsamen Zügen und blickte zu den Sternen hinauf, die durch die zerklüfteten Wolken erwachten. Er erkannte einen von ihnen, Vega. Was für eine Erinnerung! Er liebte damals und jeden Abend, während der schmerzhaften Trennungen, vereinte er zur selben Minute seinen Blick auf den ausgewählten Stern mit dem Blick der Geliebten.

Sein Leben entfaltete sich.

Aber als die Zigarette ausgedrückt war, schüttelte er seinen Schlummer ab und sagte mit hoher Stimme:

- Kommen Sie, Sie müssen.

Er ging nach Hause, setzte sich vor den Tisch, nahm eine Feder und Papier. Was würde er schreiben? Den Grund für seinen Selbstmord? Wen würde das interessieren? Wusste er sie überhaupt selbst? Er zuckte mit den Schultern: Wozu die Mühe?

Schnell stand er auf, öffnete seinen Sekretär, holte eine Pistole heraus, löschte die Kerze und drückte den Abzug.

Der Körper fiel zwischen Bett und Tisch. Einige Krämpfe bewegten ihn. Das war alles.

Die Zeit verging. Es herrschte Stille, die unendlich schwere Stille, die Zimmer erfüllt, in denen das Leben gelebt hat, als ob sich der Tod von der Leiche, die sich in einer Ecke verdreht hatte, auf die Dinge übertrüge und das Knarren des Holzes, das Seufzen der Vorhänge und das Klagen der Möbel betäubte.

 

Plötzlich knarrte es wie beim Reißen eines Stoffes. Ein Stück Glas wurde herausgerissen, und eine Hand, die durch den Spalt griff, drehte vorsichtig den Espagnolette und schob das Fenster auf. Eine Person in einem Kittel kam heraus. Er trug eine Laterne.

Freitag, 8. September 2023

Herr und Frau Jumelin

 


Maurice Leblanc

Herr und Frau Jumelin

 In einem kleinen, abgelegenen Haus zwischen Duclair und dem Château du Taillis erhängte sich ein Mann. Er hinterließ dieses Manuskript:

 Ich bringe mich um. Es gibt Erinnerungen, die man nicht ertragen kann. Sie verfolgen dich. Sie zwingen dich zu sterben. Man möchte sie zerquetschen, sie richten sich auf, noch zwingender. Sie sind das Zentrum unseres Lebens, der Dreh- und Angelpunkt, um den sich der Tanz unserer Ideen dreht, das ständige Motiv unseres Verhaltens. Die Funktion des Gehirns ist nicht mehr das Denken, sondern das Erinnern. Wir sind keine willens- und urteilsfähigen Wesen mehr: Wir sind ein Gedächtnis.

So erinnere ich mich. Eine einzige Erinnerung fordert alle meine geistigen und körperlichen Fähigkeiten heraus. Meine Augen sehen nichts anderes, meine Ohren hören nichts anderes als ihre Worte, der Akt vollzieht sich vor meinen Augen. Mein Gott, wie gut wäre es, wenn ich vergessen könnte! Aber es gibt kein wohltuendes Wasser, das die Vergangenheit auslöschen und meine Seele von den abscheulichen Visionen, mit denen sie behaftet ist, reinigen würde. Also muss ich sterben.

Wenn Sie meine Geschichte gelesen haben, werden Sie mir zustimmen.

 

Freitag, 1. September 2023

Hundert Sous

 


 Maurice Leblanc

Hundert Sous

 Mein erster Schreiber führte einen grauhaarigen Priester ein, der ein gewöhnliches Aussehen und ein sympathisches Gesicht hatte. Er trug trotz der Kälte nur eine Soutane, die so abgenutzt war und so glänzte, dass die Flammen des Feuers darin in undeutlichen Spiegelungen tanzten. Die wenigen Haare auf seinem Dreispitz waren von einem schmutzigen Rot. In der Hand trug er einen Gobelinbeutel.

Ich bat ihn, sich zu setzen und mir den Zweck seines Besuchs zu schildern. Er setzte sich und sagte mit großer, schüchterner Stimme zu mir:

- Ich bin der Abbé Gallois ... Gallois ...

Er zögerte, als ob dieser Name mir ein Geheimnis hätte verraten sollen. Und tatsächlich erinnerte ich mich an eine Geschichte über einen verschuldeten Priester, einen Skandal, den die Lokalzeitungen ausgenutzt hatten. Er fuhr fort:

- Jetzt diene ich der Pfarrei La Haie-Aubrée, einer sehr armen Gemeinde, sehr arm" - er seufzte und blickte zur Decke auf - "und ich habe hier eine Summe, die ich Ihnen anvertrauen möchte ...

Verblüfft über diese Schlussfolgerung antwortete ich:

- Das ist ganz einfach, ich stelle Ihnen eine Quittung aus.

Er unterbrach mich abrupt:

- Kann ich von diesem Betrag nach Bedarf etwas abzweigen?

- Natürlich", sagte ich.

Er schien zufrieden, öffnete seine Tasche und zog aus einer alten Brieftasche vier Hundertfrankenscheine und fünf Goldmünzen heraus. Dann holte er einen Leinenbeutel hervor und leerte den Inhalt auf den Tisch: dreihundert Fünf-Franc-Stücke.

Diese Anhäufung von weißem Geld überraschte mich. Aber er sammelte schon seine Sachen ein und begrüßte mich. Ich begleitete ihn.

Nach acht Wochen war von den zweitausend Francs nichts mehr übrig. Jeden Samstag kam er herbei, verlangte zehn oder fünfzehn Louis, zählte sie und murmelte mit trauriger Miene:

- Wie gut das funktioniert, mein Gott, mein Gott!

Freitag, 25. August 2023

Der Haï


Maurice Leblanc

Der Haï

 Um sein kleines Einkommen zu verzehren, wählte François Herledent die Gemeinde Yainville, weil sie "nicht viel hergibt". Seinem Wunsch, "endlich etwas zu sein", bot er damit eine Chance auf Verwirklichung.

Sein ganzes Leben lang hatte François Herdelent unter dem bitteren Schmerz gelitten, unbemerkt zu bleiben. Zwischen ihm und dem Glück stand ein unüberwindbares Hindernis.

In der Schule wurde er von seinen Mitschülern vernachlässigt. Er hielt sich aus ihren Spielen, Verschwörungen und ihrem Lachen heraus. Im Unterricht kümmerten sich seine Lehrer nicht um ihn. Zu Hause wurde er von seinen Eltern vergessen.

Als er aus dem Internat kam, wurde er als Lehrling zu einem Eisenwarenhändler geschickt. Er tat dort nichts. Der Chef merkte nichts von seiner Anwesenheit.

Sein Vater und seine Mutter starben. Man versäumte es, ihn an ihr Sterbebett zu rufen. Er zählte so wenig!

Mit ein paar geerbten Münzen erwarb er einen Eisenwarenladen. Aber sein Angestellter hatte alle Macht an sich gerissen. Die Kunden wandten sich nur an den Untergebenen. Der Meister trat in den Hintergrund.

Er heiratete und wurde betrogen, was - was traurig ist - seine Bedeutung nicht erhöhte. Seine Frau nahm nicht mehr Rücksicht auf ihn, und die Liebhaber liebten ihn nicht, sondern ließen sich nieder, bestellten, tranken seinen Wein, streichelten seine Frau und dachten nicht einmal daran, dass sie ihm zumindest etwas Dankbarkeit schuldeten.

Und Frauen, Rivalen, Kunden, Eltern, Lehrer und Mitschüler handelten keineswegs voreingenommen, aus Abneigung oder aufgrund eines bösartigen Plans. Nein. Der Grund für das unveränderliche Verhalten gegenüber François lag in François selbst. Er erzwang Gleichgültigkeit.

Er besaß ein unscheinbares Gesicht, ohne die Seltsamkeit einer zu starken Nase oder den Charme einer wohlgeformten Nase. Seine Bewegungen waren nicht sehr lebhaft und auch nicht sehr langsam. Er war nicht geistreich, aber auch nicht zu dumm. Er fiel weder durch ein Übermaß an Fett noch durch ein Übermaß an Dünnheit auf. Mit einem Wort, die Gesamtheit seiner moralischen und physischen Persönlichkeit verlangte, dass man ihn wie einen nutzlosen und wertlosen Gegenstand ignorierte. Er war ein Nichts. Und das wusste er.

Oft wurde er von inneren Aufständen erschüttert. Er wollte "sich zeigen". Er versuchte, "etwas zu sein", gut, schlecht, frech, barmherzig, zornig. Man schaute ihn an, dann drehte man den Kopf abwesend weg. Und dann fiel er wieder in sein Schweigen, in sein Nichts zurück.

Seine Frau starb. Bei der Beerdigung stand er im Mittelpunkt. Die Leute bemitleideten ihn. Er übertrieb seinen Kummer, um das Mitgefühl zu steigern. Auf dem Friedhof täuschte er eine Ohnmacht vor. Man umringte ihn. Dort hatte er ein paar schöne Minuten.

Freitag, 18. August 2023

Als Fensterputzer getarnt

 


Es war ein sonniger Tag im Herzen der Stadt. Menschen eilten auf den Straßen entlang und genossen das schöne Wetter, während sie ihre täglichen Erledigungen machten. Inmitten all des Trubels befand sich ein kleines Juweliergeschäft, das von den Passanten oft übersehen wurde.

In dem Geschäft arbeitete eine Frau namens Maria. Sie hatte das Geschäft vor einigen Jahren von ihrem Vater übernommen und arbeitete hart, um es zu einem Erfolg zu machen. Sie war stolz auf die Auslage, die sie jeden Morgen liebevoll gestaltete und darauf, dass ihre Kunden immer zufrieden waren.

An diesem Tag hatte sie jedoch keine Ahnung, dass eine Gruppe von Einbrechern in der Nähe war, die genau darauf aus waren, ihre wertvolle Auslage zu stehlen.

Die Einbrecher hatten sich gut vorbereitet. Sie hatten sich als Fensterputzer verkleidet und waren mit einem Staubsauger ausgerüstet. Sie parkten ihren Lieferwagen um die Ecke, in einer Seitenstraße und warteten geduldig auf den richtigen Moment.

Als die Mittagspause begann und das Geschäft leer war, machten sich die Einbrecher ans Werk. Sie holten ihr Bohrgerät und bohrten ein kleines Loch in die Schaufensterscheibe des Juweliergeschäfts. Dann schoben sie den Staubsauger durch das Loch und begannen, die gesamte Auslage aufzusaugen. Uhren, Halsketten und Armbänder im versicherten Wert von mehreren zehntausend Euro wechselten den Besitzer.

Maria kehrte nach ihrer Pause zurück und konnte ihren Augen kaum glauben. Die Auslage war leer.

Samstag, 12. August 2023

Im Pfarrhaus

 


Im Pfarrhaus.

Eine stille Geschichte.

  von Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

 

»Auch dieses hat seine Geschichte. Auch dieses.«

Der alte Pastor sagte es mit einem halb wehmütigen, halb frohseligen Lächeln, und über seine hellen, kinderguten Augen legte es sich wie der feine, blaue Schleier einer lieben Erinnerung.

Dann, sich die erloschene Cigarette wieder über der Lampe anzündend, fuhr er fort: »Es haben mich schon viele gefragt, warum ich statt der Pfeife, die ja mit meinem Stande unzertrennlich verbunden scheint, an Sonntagen immer nur Cigaretten rauche, trotzdem es mir nicht gesund ist, und noch dazu aus so unbeholfenen Rohrspitzen. Ich will es Ihnen erzählen, wenn Sie vielleicht auch über die Thorheit eines altmodischen Mannes lächeln werden. Haben doch so viele irgend eine Gewohnheit, die anderen thöricht erscheint, die sie aber hegen und pflegen, weil sie ihnen hilft, ein liebes Gedenken wachzuhalten … Schrauben Sie, bitte, die Lampe etwas niedriger, lieber Freund!«

Der Kaplan, der dem alten Herrn gegenüber sass, gehorchte. Ein halbes, gedämpftes Licht lag nun über den hier und da wurmstichigen, zwei oder drei Generationen alten Möbeln und den vergilbten Büchern und Schriften, die in grosser Anzahl, aber in bemerkbarer Unordnung darauf lagen. Die grossen Holzscheite in dem eisernen Ofen knisterten mitunter, und die Flamme und das erhitzte Petroleum surrten vernehmlich.

»Es sind jetzt gegen dreissig Jahre her, dass mich mein seliger Vorgänger in dieser Pfarre als Kaplan zu sich berief. Ich war damals wohl so alt wie Sie, fünfundzwanzig. Von vielen Seiten wurde ich noch gedrängt, erst, wie die meisten meiner Kommilitonen, nach Deutschland zu gehen, nach Leipzig oder nach Rostock, wo wir Ungarn grössere Stipendien geniessen, um dort meine theologischen Studien zu vervollständigen. Aber mir war das Studentenleben sauer geworden. Arm wie ich war, hatte ich mir durch Stundengeben fast jeden Bissen Brot selber verdienen müssen. Ich nahm also an, und so kam ich in diese Gemeinde. Das damalige Pfarrhaus war noch nicht so vornehm wie dieses. Es stand auf demselben Platze, aber das Dach war mit Stroh gedeckt, die Wände waren viel niedriger und die Öfen rauchten. Mitunter froren wir im Winter, aber es hat mir doch leid gethan, als es abgerissen wurde. In dem alten bin ich jung und glücklich gewesen, in das neue bin ich schon mit grauen Haaren eingezogen, vereinsamt bis auf meine Tochter. Meine selige Frau hat es nicht mehr erlebt … Mit dem geistlichen Herrn kam ich in ein so freundschaftliches Verhältnis, dass ich mich ihm gegenüber bald mehr als Sohn des Hauses, denn als sein Kaplan fühlte. Weniger gut gelang mir dies bei seiner Tochter. Er war Witwer und sie, die ebenso alt wie unsere Böske sein mochte, also neunzehn Jahr, führte ihm die Wirtschaft. Schüchtern und ohne Erfahrung im Verkehr mit Damen, ging ich ihr beinahe aus dem Wege, so dass wir uns eigentlich nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten sahen.

Wenn ich nach beendetem Nachtmahl mit meinem seligen Vorgänger, wie es gewöhnlich war, noch ein Stündchen am Tische sitzen blieb, um über Weltläufte oder Gemeindeangelegenheiten zu plaudern, sass sie immer ganz still am anderen Ende der Tafel, mit einer Häkelei beschäftigt oder in alten Jahrgängen einer illustrierten Zeitschrift blätternd. Mitunter glaubte ich dann zu bemerken, dass sie hier und da das feine Köpfchen hob und mich verstohlen von der Seite ansah. Es hätte aber auch eine Täuschung sein können, und so gab ich denn einige Zeit hindurch acht, bis es mir gelang, ihre Augen mehrmals auf frischer That zu ertappen. Wenngleich ich mir nichts dabei dachte, beunruhigte mich das doch, und ich musste mir Mühe geben, mit meinen Gedanken bei dem Thema des Gesprächs zu bleiben, das der geistliche Herr mit mir führte.

Freitag, 4. August 2023

In der Anstalt

 


In der Anstalt.

Ein Bild aus dem Leben.

von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Nicht weit von einer westdeutschen Industriestadt liegt eine grössere Zahl schmucklos, aber gefällig gebauter Häuser. Durch grössere Entfernungen voneinander getrennt, verstreuen sie sich über ein weites, hügeliges Gelände, das hier und da mit Wald bestanden ist. Grösstenteils werden sie von Kranken bewohnt, denen die kräftige Luft und der tiefe Frieden wohlthut.

In einem der Häuser jedoch werden keine körperlich Leidenden aufgenommen. Dies ist das Haus, das am weitesten der Stadt zugeschoben und durch ein eisernes Gitterwerk von der Landstrasse getrennt ist. Es ist die Domäne derer, die Schiffbruch im Leben gelitten haben, das Asyl der Gestrandeten.

Es beherbergt nur Leute aus besseren Lebensschichten. In der Überzahl sind die Offiziere a. D. Etliche Geistliche sind auch darunter, mitunter auch ein Schriftsteller oder ein Redakteur.

Mannigfaltig ist ihre Schuld und ihr Schicksal; mannigfaltig sind die Wege, die sie hierhergeführt; allen gemeinsam aber ist der dumpfe Gram, der ihre Tage verbittert und der sie allmählich stumpf macht gegen das Aussenleben, der allmählich auch ihre Sehnsucht, wieder hinauszufliegen, erdrückt, und erst mit dieser Sehnsucht matter und matter wird.

Die meisten der Herren sind schon längere Zeit da. Man unterscheidet sie leicht von den übrigen Bewohnern der Anstalt. Sie tragen einen Zug schmerzlicher Resignation im Gesicht, und ihre Augen blicken auf ein vergangenes Leben.

Hier und da gemahnen noch Gang und Gebärde an die frühere gesellschaftliche Stellung. Sonst kommt sie selten zum Vorschein. Besonders nicht in der Kleidung. Wenn beim Essen ein Tropfen Suppe oder Bratensaft auf den Rock fällt – nun, so schadet das nichts. Gereinigt wird er deswegen doch nicht. Für wen auch? Untereinander hat man sich gegenseitig nichts vorzuwerfen und ausser der alten Dame, welche die Wirtschaft führt, und ihren beiden Dienstmädchen ist kein weibliches Wesen für sie vorhanden. In die Stadt zu gehen ist ihnen auch nicht erlaubt, weil es zum Teil der Alkohol war, der sie hierhergebracht.

Da ist der Hauptmann und Oberamtmann a. D. von Wegeler, der ein tüchtiger, pflichttreuer Beamter war, bis ihm sein junges Weib im ersten Kindbett starb. Von da ab hatte er keinen Sinn mehr für seine Akten gehabt und vom frühen Morgen an bei der Flasche gesessen. Man schonte ihn so lange als möglich; eines Tages aber war er schwer betrunken an das offene Grab eines alten Soldaten getreten, um ihm nach dem Geistlichen als Vorsitzender des Kriegervereins ebenfalls einige Worte nachzurufen. Hin und her taumelnd hatte er einige unzusammenhängende Sätze hervorgestossen, bis er endlich gänzlich das Gleichgewicht verloren hatte und auf den blumengeschmückten Sarg gefallen war. Es hatte einen dumpfen Schall gegeben, der oben einen entrüsteten Widerhall fand und laut genug war, um bis zum Minister zu dringen. Er hat nachdem nicht mehr amtiert und trug sein Weh in die stillen Räume der Anstalt. Vom Trunk liess er bald; auch die Wunden, die ihm der Tod seiner Frau geschlagen, vernarbten in der alles heilenden Zeit. Dafür überkam ihn aber die Energielosigkeit eines Lebens, dem jeder Sporn fehlt, die Resignation eines Lebens, das sich selber verloren giebt.

Sein Zimmergenosse, ein kleiner, pommerscher Pastor, der wie eine Karikatur aus dem vorigen Jahrhundert aussieht und eine verbitterte, boshafte Zunge hat, bedurfte keines so jähen Anstosses, um ein Trinker zu werden. Fünfundzwanzig Jahre in einem elenden Dorfe, ganz einsam, ohne Verkehr, ohne Bücher und geistige Anregung hatten ihn ganz allmählich dazu gemacht. Die Bauern hatten oft Gelegenheit gehabt, einen Betrunkenen auf der Kanzel zu sehen, bis sich das hohe Konsistorium hineinmischte, und er abgesetzt wurde.

Dann wohnt ein junger, bildhübscher Mann dort, der kurz nach seiner Beförderung zum Oberleutnant in später Nacht einst angerauscht und durch einen Wortwechsel erregt aus dem Kreise seiner Kameraden geschieden und auf dem Heimwege mit der brennenden Cigarre einem Pulverschuppen zu nahe gekommen war. Der Posten hatte ihn auf die bestehenden Vorschriften aufmerksam gemacht, vielleicht in einem ungebührlichen Ton. Genug, der arme, betrunkene Leutnant hatte ihn mit der flachen Klinge über das Gesicht geschlagen. Verwundet hatte er ihn nicht, aber die Militärgesetze lassen nicht mit sich spassen. Er bekam den schlichten Abschied, und da er zu keinem anderen Berufe vorgebildet war, landete auch er hier.

Ach, es sind seltsame Schicksale, die sich hier zusammenfinden! …

In dumpfem Gram, in stumpfer Resignation schleppen sie ihre Tage dahin. Die Erinnerung, in der sie überhaupt nur leben, das Fehlen des weiblichen Elementes, das schon manchen zu neuem Aufstieg trieb, das Fehlen jeglicher Berührung mit den brausenden Stürmen und Strömen der Freiheit, das lässt sie ganz verkümmern.

Einmal schlug aber doch eine Welle der Aussenwelt auch in ihren Frieden.

Eines Tages blieb Herr von Wegeler, der als erster der Herren gegen Mittag das Speisezimmer betrat, überrascht in dem Thürrahmen stehen. Auf seinem dicken, aber bleichen Gesicht spiegelte sich ein fassungsloses Erstaunen, das sich mehr oder minder auch in den Zügen der nachfolgenden ausdrückte.

Neben der Wirtschafterin, einer Pastorenwitwe, stand eine junge, hohe Mädchengestalt. Das Haar lag ihr in schweren, goldenen Flechten auf dem Haupte, und ihre Augen waren schön und klug. Sie hatte das Aussehen einer vornehmen Dame, wenn sie auch nur eine Erzieherin war, die ihre Tante besuchte.

Nach der Gesamtvorstellung, die von seiten des Hausvaters, eines weissbärtigen Greises, erfolgte, schien sich die allgemeine Erregung etwas zu legen. Man ass seine Suppe wie gewöhnlich, nur dass hier und da verstohlene Blicke zu dem Fremdling hinüberstreiften. Bald kam aber die zweite Sensation. Das Fräulein, das einige Zeit verwundert auf die schweigenden Gesichter gesehen hatte, begann ein Gespräch. Seit Menschengedenken plauderte man nicht am Anstaltstisch. Es war immer, als ob der allgemeine Gram jedes Wort in den Kehlen zurückgehalten hatte. Sie aber stellte harmlos dem ihr gegenüber sitzenden Hausvater allerhand Fragen, sprach dann über das Wetter, Krankheiten und den englischen Nationalcharakter und zog allmählich auch Herrn von Wegeler in die Unterhaltung.

Dabei bemerkte er plötzlich, dass sie mit einem Blick grenzenlosen Erstaunens seinen Rock betrachtete, und zum erstenmal seit langer Zeit dachte er daran, dass der ja ganz entsetzlich schmutzig sein musste. Eine brennende Röte flog über sein Gesicht. Dann aber trat der ehemalige Offizier in ihm hervor. Mit Gewalt seine Verlegenheit niederzwingend, setzte er sich durch lebhaftes Geplauder über das Peinliche dieses Augenblicks hinweg, und schon nach wenigen Minuten waren in ihm wie in den übrigen am Tische Sitzenden wenigstens die Formen der besseren Vergangenheit wieder lebendig geworden.

Kaum dass sie die Tafel verlassen hatten, wurde von allen Seiten nach dem Hausdiener gerufen, und eine halbe Stunde später trabte dieser, keuchend unter der Last von vierzehn Oberröcken der Reinigungsanstalt zu. Herr von Wegeler zog sich seinen Sonntagsstaat an, und selbst der Ministersohn, der so lange Jura studiert hatte, bis ihm die Haare ausgegangen waren, suchte sich eine frische, lachsfarbene Krawatte hervor, obwohl er dabei murmelte, dass es doch eigentlich nur eine Erzieherin sei.

Beim Nachmittagskaffee boten sie einen anderen Anblick. Selbst der kleine Pastor, der immer in den Kleiderschrank stieg, um dort einen heimlichen Kognak zu sich zu nehmen, hatte sich rasiert und seine Hände gründlicher als sonst gewaschen. Die, der zu Ehren das alles geschehen war, liess sich zunächst aber nicht blicken. Als sie endlich doch erschien, war sie im Ausgehkostüm und trug den Sonnenschirm in der behandschuhten Hand.

 

»Meine Herren,« rief sie fröhlich, »wer von Ihnen will so freundlich sein, mich auf die Ziegelburg zu begleiten? Tante hat natürlich keine Zeit dafür!«

Eine Sekunde blieb alles still. Jeder dachte daran, dass es ihnen streng untersagt war, das Anstaltsgebiet zu verlassen. Dann aber schoben sich dreizehn Stühle zurück, und bis auf den Pastor erklärten sie alle, dass es ihnen ein besonderes Vergnügen sein würde.

Ein Lächeln in den schönen Augen, sah sie von einem zum andern.

»Die Herren sind zu liebenswürdig,« meinte sie dann. »So viel Kavaliere auf einmal würde aber doch beängstigend sein. Herr von Wegeler und Sie, Herr Leutnant, wenn ich bitten darf. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Und nach einem graziösen Kopfnicken ging sie den beiden Auserwählten voran.

Nachdem sie den hohen Burgberg bestiegen und die entzückende Aussicht genossen hatten, die bei einem mässig guten Glase bis zur Porta Westphalica reicht, schlug sie vor, noch einmal in die Stadt zu fahren, wo sie einen kleinen Einkauf zu besorgen hatte. Herr von Wegeler und der melancholische Leutnant folgten ihr auch dahin. Zum zweitenmal übertraten sie damit die jahrelang eingehaltenen Anstaltsvorschriften. Aber was sollten sie thun? Der blosse Gedanke, ihr gestehen zu müssen, dass sie wie Schulkinder nur eine sehr begrenzte Bewegungsfreiheit genossen, trieb ihnen schon die Scham in das Gesicht, und beiden schoss es wie ein Blitz durch das Gehirn, dass es doch eigentlich schmachvoll wäre, in solcher Abhängigkeit zu stehen – sie, zwei kräftige, gesunde Menschen!

Als sie heimkehrend die auf das Anstaltsgebiet führende Thür öffneten, sahen beide noch einmal zurück und in ihre Augen trat ein seltsamer Ausdruck. Dort lag die Stadt. Ihre Lichter funkelten zu ihnen herüber, und wie ein dumpfes Brausen schlug der Lärm der geschäftigen Freiheit an ihr Ohr. Das Haus vor ihnen aber lag tot und still.

Herr von Wegeler konnte in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen. Die Idee, wieder hinauszutreten, liess ihm keine Ruhe. Und am nächsten Tage nahm er einen grossen Bogen Papier zur Hand, auf dem er eine Eingabe an das Ministerium zu entwerfen begann. Er kam damit jedoch nicht zu Ende. Immer wieder hatte er zu streichen und zu verbessern, und so verschob er die Absendung denn von einem Tage zum andern und besserte tagtäglich daran herum.

Es war allmählich ein ganz anderes Leben in die Anstalt gekommen. Die Herren hielten wieder auf ihre Kleidung, bei Tische wurde geplaudert, die Tagesereignisse besprochen, hier und da auch ein Scherz gemacht. Selbst untereinander grüssten sie sich verbindlicher, und wenn einer das Rasieren vergessen hatte, trafen ihn missbilligende Blicke. Der melancholische Leutnant bürstete sogar seinen Schnurrbart hoch und legte regelmässig eine Bartbinde an, wodurch er gleich viel weniger melancholisch aussah.

An allen Ecken und Enden merkte man es, dass ein frischer Wind durch die modrige Luft der Resignation gefahren war.

Die Gouvernante hatte aber nur einen kurzen Urlaub. Schon am nächsten Sonntag musste sie fort, über den Kanal zurück in die erwerbende Fron der Kindererziehung.

Als sie sich von den Herren verabschiedete, wurde es von keinem besonders schmerzlich empfunden. Verliebt war ja niemand in sie, und niemand hatte daran gezweifelt, dass sie über kurz oder lang wieder verschwinden würde.

Bei der nächsten Mittagstafel hatten aber dennoch alle ein eigentümliches Gefühl. Die alte Pastorenwitwe sass grämlich auf ihrem Stuhl, der Hausvater hatte den weissen Kopf beinahe ganz in die Schultern hineingezogen, und die Herren sahen trübe in ihre Suppe, die auch weniger Fettaugen zu haben schien wie früher. Einmal versuchte der Ministersohn mit der roten Krawatte, ein Gespräch einzuleiten. Er erhielt aber nur einsilbige Antworten.

Am nächsten Tage war der Stumpfsinn wieder in alle seine Rechte eingesetzt. Die Röcke wurden wieder fleckig, Herr von Wegeler überliess seine Eingabe den Mäusen, der Leutnant bürstete sich den Bart nicht mehr, der kleine Pastor fing wieder an, das Rasieren und Händewaschen für Zeitverschwendung zu halten, und wenn des Abends die Lichter der Stadt herüberfunkelten, sah sie niemand mehr an.

Für wen auch?

Es war eine Welle der Aussenwelt auch in ihren »Frieden« gedrungen, aber sie ebbte viel zu früh zurück. Ihre Seelen sinken wieder in den alten Schlaf. Wie das graue Haus in der Dämmerung liegen sie da, tot, still, träge, während doch ganz in ihrer Nähe das Leben sich in gigantischer Arbeit regt und mit roten, funkelnden, bösen Augen zu ihnen herübersieht.

 

 

Freitag, 28. Juli 2023

Amtsrichter Johnsons Höhepunkte

 


Amtsrichter Johnsons Höhepunkte.

 von Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Jeder Mensch hat in seinem Leben einige Höhepunkte, die ihm bis sein seliges oder unseliges Ende unvergesslich bleiben.

Auch Ernst Alexander Johnson hatte die seinigen.

Den ersten hatte er damals erreicht, als er, der eben Amtsrichter in dem kleinen polnischen Städtchen geworden war, seine alte Studentenliebe heimführte.

Am ersten Abend, als sie beisammen sassen, schmiegten sie sich fest aneinander und blickten wortlos in ihre neue Heimat.

 

Ernst Alexander, in dem ein gefesselter Dichter lag, seufzte tief auf. Auf den Goldgrund des gegenwärtigen Glückes malten seine Träume Blüten und Kränze einer späteren Zukunft, und das Grün der Hoffnung war überall.

Die Augen wurden ihm feucht. Er griff nach der Hand seiner Frau und küsste sie, so dass sie seine Thränen spürte.

Auch ihre Blicke waren verschwommen. Vielleicht hatte sie seine Träume mitgeträumt. Sie fuhr ihm mit den Fingern in das braune, wellige Haar.

»Wie kann man nur so weich sein,« sagte sie. »Wie kann man nur so weich sein, du Lieber?« …

 

 

Sie lebten sehr glücklich zusammen. Nur einschränken mussten sie sich, denn das Gehalt war nicht gross. Das thaten sie aber gern. Ernst Alexander trank einen Schoppen weniger als früher, und gab nie mehr als fünf Pfennig Trinkgeld. Allmählich gewöhnte er es sich überhaupt ab, in ein Restaurant zu gehen. Wozu auch? Seine junge Frau machte es ihm daheim so behaglich wie möglich, und dass ihn der Kronenwirt, Herr Ignatz Malczewski, nur noch obenhin grüsste, liess sich verschmerzen. Als sie dann gar noch anfing, sich mit Schneiderei zu beschäftigen und ganz winzig kleine Häubchen und Jäckchen verfertigte, da brachte er es natürlich nicht mehr über das Herz, sie auch nur einen einzigen Abend allein zu lassen.

Es sollte aber früh genug anders werden. Nicht, dass ein Streit ihre Harmonie getrübt hätte! Aber eines Tages trat einer in ihr Häuschen, den sie beide noch in weiter Ferne geglaubt hatten. Der präsentierte die Rechnung für das stille, reiche Glück, das sie ein volles Jahr hindurch am Tisch des Lebens genossen hatten, und die Rechnung war hoch. Frau Marianne brachte ein totes Kind zur Welt, und drei Tage später folgte sie dem kleinen Wurm nach in die Grube.

Ernst Alexander blieb allein.

Fortan lebte er ganz einsam. Eine weiche Natur von Geburt an, schien der Verlust seines Weibes ihn ganz gebrochen zu haben.

 

»Es geht nicht so weiter mit Johnson,« sagte der »Aufsichtführende« jeden Tag. »Er vergrämt und vereinsamt immer mehr. Wir müssen etwas thun, um ihn aus dieser Lethargie zu reissen.«

Freitag, 21. Juli 2023

Der alte Steffen

 


Der alte Steffen.

 von Georg Busse-Palma

 Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Im Osten der Universitätsstadt erhebt sich das Armenhaus. Es ist aus massiven, grauen Steinen gebaut und hat zwei Stockwerke. In dem oberen befinden sich aber nur die Krankensäle, so dass die noch rüstigen Insassen von der schönen, kleinen Stadt fast nichts zu sehen bekommen. Denn aus ihren niedrig gelegenen Fenstern können sie die Mauern, die das Haus umschliessen, nicht überblicken, und Urlaub bekommen sie sehr selten.

Im Winter ist das zu ertragen. Wenn der Regen gegen die Scheiben schlägt oder die Flocken immer dichter und dichter herniederwirbeln, frieren die alten Leute und sehnen sich nicht nach draussen. Nur der alte Steffen vielleicht. Aber auch der denkt dann nicht an die deutschen Thäler und Gebirgsketten, die dann doch rauh und ungastlich sind. Er träumt von der heissen, brennenden Tropensonne, trotzdem gerade sie ihn so krank und elend gemacht hat.

Er ist schwach auf den Beinen und hat keine Kraft in den Händen.

Mehrere Jahre hindurch ist er Plantagenaufseher in Java gewesen und mit blossen Füssen über die Felder gegangen, bis sein Rückenmark verdorrt und er überflüssig geworden war. Da kam er nach Deutschland zurück, und fünf Jahre schon lebte er im Armenhause.

Aber in dem Druck der grauen, freudlosen Gegenwart kann er die Zeiten nicht vergessen, wo er als Lanzknecht die halbe Welt durchfahren. Er hat unter der Tricolore und unterm Halbmond gefochten, ist bei Sewastopol im Feuer gewesen und hat in Tonkin geblutet. Dann ist er zu den Holländern desertiert, und dort im Civildienst hat ihn das Unglück getroffen.

In der Schar seiner Hausgenossen ist er immer noch eine imposante Erscheinung. Unter Zwergen und Krüppeln und zahnlosen, ewig kauenden Bettlergestalten tritt seine stämmige Figur wirkungsvoll hervor. Der massige Kopf mit der kräftigen Nase, mit dem kurzen, grauen Vollbart und den hellen Augen muss gut aussehen, wenn eine Fahne über ihm flattert.

Gewöhnlich scheint er recht gleichmütig und ruhig. Manchmal aber fangen seine Augen an zu glühen und zu blitzen. Das ist, wenn die Sonne scheint. Jedem Sonnenstrahl sieht er dann nach.

Jetzt ist die Zeit seiner Marter und qualvollsten Wonne. Es ist Frühling geworden.

Stundenlang sitzt er täglich auf der verwitterten Holzbank im Hofe. Wenn er die Wimpern hebt, sieht man eine verzehrende Sehnsucht hervorlodern. Denn die Schwalben haben unter dem Giebel gebaut, und ihre Schwingen streifen um sein Gesicht, die Bäume grünen und sind voll junger Knospen, zwischen den Steinen im Hof schiessen schmale Gräser hervor, und die Vergangenheit wird in ihm lebendig.

Seit zwei Tagen hat er nicht mehr gesprochen und wird noch weitere Tage nicht sprechen. Seine Kameraden aber wissen, dass jetzt die Abende kommen, wo er erzählen wird, heiser vor Erregung, aber ein Poet in seiner sehnsuchtsreichen Qual.

Wenn sie alle zu Bette sind und nur die Nachtlampe rötlich glühend durch den dunklen Schlafsaal schaukelt, richtet er sich auf in den Kissen. Und er spricht von seiner Jugend und ihrer Sonne und Selbstherrlichkeit. Wie er in schimmerndem Segler über blaue Meere gefahren, und von den grünen Küsten Kleinasiens Marmorhäuser herüberwinkten und der glänzende Ölbaum. Wie er in Albanien biwakierte und mit Baschi Bozuks um ein Marschallsross gewürfelt, das feinere Glieder hatte als eine Königstochter und dessen Nüstern rosig waren wie der duftigste Nelkenkelch. Wie er in Algerien Feldwache gestanden in Palmenhainen und Dattelwäldern und einen Kabylen erschlagen um einen Trunk Wasser. Wie er in schaukelnder Dschunke den heiligen Strom durchglitten, vorüber an rauschenden, undurchdringlichen Dschungeln, unter Bäumen, die, im Lande wurzelnd, sich weit über das Wasser reckten und in deren dichtem Astwerk schlanke, bunte Königstiger lauerten, lautlos mit geschmeidigem Schweife die Flanken peitschend. Er spricht von Tropensternen und zierlichen havanesischen Frauen, von wirbelnden Trommeln und toten Freunden; nur von seiner Sehnsucht spricht er nicht.

Freitag, 14. Juli 2023

Ein Kind der See

 


Ein Kind der See.

 von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Er war ein Antwerpener.

Sein Vater, dessen Glieder die Gicht gekrümmt hatte, verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem offenen Meer, das er Jahrzehnte lang befahren hatte. Als kleiner Hafenbeamter wohnte er dicht am Wasser, und über die Wiege seines Kindes flogen die herben, salzigen Seewinde. In die Schlummerliedchen, die ihm die Mutter sang, schrillten die Dampfpfeifen, und wenn er des Nachts sein heisses Köpfchen aus den Kissen hob und durch das Fenster sah, glotzten ihn aus der Ferne böse, rotglühende Augen an. Er fürchtete sich aber nicht lange vor ihnen, denn ehe er noch sprechen konnte, wusste er schon, dass sie kein Spuk, sondern nur die Laternen mächtiger, dunkler Schiffskolosse waren, die sich schwerfällig durch den Kanal dem geräumigen Hafen zu bewegten.

Kaum, dass er die Kinderschuhe ausgetreten hatte, ging auch er zur See. Als Leichtmatrose fuhr er auf einem Kauffahrteischiff.

Da kam es, dass sein Grossvater mütterlicherseits, der tief im Binnenlande wohnte, um eine Mitternacht den Tod an die Thüre seines Gehöftes pochen hörte. Auch die Klinke hatte geknirscht, aber der hagere Schnitter war noch einmal vorübergegangen. Nur gemahnt hatte er den Alten. Am Tage darauf ging dieser zu dem Geistlichen des Ortes und liess sich einen Brief schreiben an seine Tochter, die Mutter von Henrik Jansen junior. Einen Brief des Inhalts, dass sein Enkel zu ihm kommen solle, damit, wenn der Schnitter wiederkäme, einer da wäre, der die gemähte Garbe in die Scheuer bringe und ihm ein Erbe, dem Gehöft aber ein neuer Herr sei.

Jansen jun. stiess anfänglich nur ein unartikuliertes Grunzen aus, als seine Mutter ihm davon Mitteilung machte. Da er gerade nicht geheuert war, reckte er seine mächtigen jungen Glieder auf der Ofenbank und faulenzte. Er dachte aber immer daran, dass er bald wieder fahren würde, und es wollte ihm durchaus nicht in den blonden Schädel, dass er überhaupt von der See weggehen und als Binnenländer leben könnte. Zwischen Leuten, die noch nie einen schwimmenden Balken unter den Füssen gehabt! Lächerlich war dies einfach. Und am Schluss dieser Gedankenkette spie er verächtlich ein Stück Kautabak in weitem Bogen durch das geöffnete Fenster.

Seine Mutter, die früh verhärmt und früh gealtert aussah, liess aber nicht nach. Für sie, die tief im Lande Geborene, waren Meer und Schiffahrt immer nur unersättliche Mörder gewesen. Zwei Brüder ihres Mannes hatten sie auf dem Gewissen. Der eine war ertrunken, der andere hatte sich das gelbe Fieber geholt und war in der Fremde verscharrt worden. Sie fürchtete für ihren Sohn und wurde nicht müde, auf ihn einzureden.

Es dauerte aber lange, bis sie seine schwerfälligen Gedanken auf den Punkt gebracht hatte, von dem aus gesehen das Binnenland lieblich war. Als er jedoch einmal sich selber sagte, dass es prächtig sein müsse, auf eigenem Grund und Boden zu stehen, wo er keinem Kapitän und keinem Steuermann zu parieren brauchte – da hatte sie gewonnenes Spiel.

Jansen jun. erhob sich von der Ofenbank, trank einen Genever und siedelte dann zu seinem Grossvater über.

Das Dorf, in welchem dieser wohnte, war fett und nahrhaft und seine eigene Wirtschaft desgleichen. Als der Alte seinen Enkel bei sich hatte, neigte er das Haupt, so tief wie eine Ähre im Juli. Bald knirschte die Klinke zum zweiten Male, und diesmal ging der Fremde nicht vorüber; im Gegenteil gab er dem Landwirt gewordenen Matrosen Gelegenheit, ein würdiges Leichenbegängnis zu veranstalten und sich als Herrn eines gesegneten Ackers, eines stattlichen Gebäudes und mehrerer Joch Ochsen zu fühlen.

Ein alter, erfahrener Knecht war da, so dass es an der kundigen Hand nicht fehlte und Jansen jun. Zeit hatte, die Schönheit des Binnenlandes kennen zu lernen.

Anfänglich erregte alles seine Bewunderung und Freude. Die wogenden, goldgelben Ähren, die ihm fast bis an die Schulter reichten, die fruchtstrotzenden Obstbäume und nicht zum mindesten der sagenumwobene Klapperstorch, der sich hier auf der sumpfigen Wiese behaglich Frösche fing, – es waren ihm entweder ganz fremde Erscheinungen, oder doch nur wie flüchtige Traumbilder, irgendwo in der Vergangenheit gesehene. So verging ihm der Sommer schnell und fröhlich. Solange ihm alles neu und fremd war, gefiel ihm das Dorf, den Herbst hindurch und auch den Winter über. Wenn es ganz grimmig kalt war und er in dem mollig erwärmten Zimmer sass, schmunzelte er sogar mitunter bei dem Gedanken, dass er das Jahr vorher um diese Zeit an der englischen Küste getrieben hatte, wo es so kalt war, dass die Haut der arbeitenden Hände in Fetzen an den gefrorenen Tauen kleben blieb. Ach, da war es hier am Kamin doch behaglicher! Und er stopfte sich eine neue Pfeife, trank einen neuen Genever und war zufrieden.

Als es aber Frühling wurde, ging er umher wie ein Verlorener. Es drückte ihn etwas. Wie ein Stein lag es auf seiner Brust. Manchmal war es ihm, als ob er an dem fetten, kräftigen Erdgeruch ersticken müsste. Die ganze Luft war durchtränkt von ihm und selbst der Wind war fett und erdig.

Er klagte dem Geistlichen sein Leid.

 

Beliebt: