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Freitag, 25. August 2023

Der Haï


Maurice Leblanc

Der Haï

 Um sein kleines Einkommen zu verzehren, wählte François Herledent die Gemeinde Yainville, weil sie "nicht viel hergibt". Seinem Wunsch, "endlich etwas zu sein", bot er damit eine Chance auf Verwirklichung.

Sein ganzes Leben lang hatte François Herdelent unter dem bitteren Schmerz gelitten, unbemerkt zu bleiben. Zwischen ihm und dem Glück stand ein unüberwindbares Hindernis.

In der Schule wurde er von seinen Mitschülern vernachlässigt. Er hielt sich aus ihren Spielen, Verschwörungen und ihrem Lachen heraus. Im Unterricht kümmerten sich seine Lehrer nicht um ihn. Zu Hause wurde er von seinen Eltern vergessen.

Als er aus dem Internat kam, wurde er als Lehrling zu einem Eisenwarenhändler geschickt. Er tat dort nichts. Der Chef merkte nichts von seiner Anwesenheit.

Sein Vater und seine Mutter starben. Man versäumte es, ihn an ihr Sterbebett zu rufen. Er zählte so wenig!

Mit ein paar geerbten Münzen erwarb er einen Eisenwarenladen. Aber sein Angestellter hatte alle Macht an sich gerissen. Die Kunden wandten sich nur an den Untergebenen. Der Meister trat in den Hintergrund.

Er heiratete und wurde betrogen, was - was traurig ist - seine Bedeutung nicht erhöhte. Seine Frau nahm nicht mehr Rücksicht auf ihn, und die Liebhaber liebten ihn nicht, sondern ließen sich nieder, bestellten, tranken seinen Wein, streichelten seine Frau und dachten nicht einmal daran, dass sie ihm zumindest etwas Dankbarkeit schuldeten.

Und Frauen, Rivalen, Kunden, Eltern, Lehrer und Mitschüler handelten keineswegs voreingenommen, aus Abneigung oder aufgrund eines bösartigen Plans. Nein. Der Grund für das unveränderliche Verhalten gegenüber François lag in François selbst. Er erzwang Gleichgültigkeit.

Er besaß ein unscheinbares Gesicht, ohne die Seltsamkeit einer zu starken Nase oder den Charme einer wohlgeformten Nase. Seine Bewegungen waren nicht sehr lebhaft und auch nicht sehr langsam. Er war nicht geistreich, aber auch nicht zu dumm. Er fiel weder durch ein Übermaß an Fett noch durch ein Übermaß an Dünnheit auf. Mit einem Wort, die Gesamtheit seiner moralischen und physischen Persönlichkeit verlangte, dass man ihn wie einen nutzlosen und wertlosen Gegenstand ignorierte. Er war ein Nichts. Und das wusste er.

Oft wurde er von inneren Aufständen erschüttert. Er wollte "sich zeigen". Er versuchte, "etwas zu sein", gut, schlecht, frech, barmherzig, zornig. Man schaute ihn an, dann drehte man den Kopf abwesend weg. Und dann fiel er wieder in sein Schweigen, in sein Nichts zurück.

Seine Frau starb. Bei der Beerdigung stand er im Mittelpunkt. Die Leute bemitleideten ihn. Er übertrieb seinen Kummer, um das Mitgefühl zu steigern. Auf dem Friedhof täuschte er eine Ohnmacht vor. Man umringte ihn. Dort hatte er ein paar schöne Minuten.

Freitag, 18. August 2023

Als Fensterputzer getarnt

 


Es war ein sonniger Tag im Herzen der Stadt. Menschen eilten auf den Straßen entlang und genossen das schöne Wetter, während sie ihre täglichen Erledigungen machten. Inmitten all des Trubels befand sich ein kleines Juweliergeschäft, das von den Passanten oft übersehen wurde.

In dem Geschäft arbeitete eine Frau namens Maria. Sie hatte das Geschäft vor einigen Jahren von ihrem Vater übernommen und arbeitete hart, um es zu einem Erfolg zu machen. Sie war stolz auf die Auslage, die sie jeden Morgen liebevoll gestaltete und darauf, dass ihre Kunden immer zufrieden waren.

An diesem Tag hatte sie jedoch keine Ahnung, dass eine Gruppe von Einbrechern in der Nähe war, die genau darauf aus waren, ihre wertvolle Auslage zu stehlen.

Die Einbrecher hatten sich gut vorbereitet. Sie hatten sich als Fensterputzer verkleidet und waren mit einem Staubsauger ausgerüstet. Sie parkten ihren Lieferwagen um die Ecke, in einer Seitenstraße und warteten geduldig auf den richtigen Moment.

Als die Mittagspause begann und das Geschäft leer war, machten sich die Einbrecher ans Werk. Sie holten ihr Bohrgerät und bohrten ein kleines Loch in die Schaufensterscheibe des Juweliergeschäfts. Dann schoben sie den Staubsauger durch das Loch und begannen, die gesamte Auslage aufzusaugen. Uhren, Halsketten und Armbänder im versicherten Wert von mehreren zehntausend Euro wechselten den Besitzer.

Maria kehrte nach ihrer Pause zurück und konnte ihren Augen kaum glauben. Die Auslage war leer.

Samstag, 12. August 2023

Im Pfarrhaus

 


Im Pfarrhaus.

Eine stille Geschichte.

  von Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

 

»Auch dieses hat seine Geschichte. Auch dieses.«

Der alte Pastor sagte es mit einem halb wehmütigen, halb frohseligen Lächeln, und über seine hellen, kinderguten Augen legte es sich wie der feine, blaue Schleier einer lieben Erinnerung.

Dann, sich die erloschene Cigarette wieder über der Lampe anzündend, fuhr er fort: »Es haben mich schon viele gefragt, warum ich statt der Pfeife, die ja mit meinem Stande unzertrennlich verbunden scheint, an Sonntagen immer nur Cigaretten rauche, trotzdem es mir nicht gesund ist, und noch dazu aus so unbeholfenen Rohrspitzen. Ich will es Ihnen erzählen, wenn Sie vielleicht auch über die Thorheit eines altmodischen Mannes lächeln werden. Haben doch so viele irgend eine Gewohnheit, die anderen thöricht erscheint, die sie aber hegen und pflegen, weil sie ihnen hilft, ein liebes Gedenken wachzuhalten … Schrauben Sie, bitte, die Lampe etwas niedriger, lieber Freund!«

Der Kaplan, der dem alten Herrn gegenüber sass, gehorchte. Ein halbes, gedämpftes Licht lag nun über den hier und da wurmstichigen, zwei oder drei Generationen alten Möbeln und den vergilbten Büchern und Schriften, die in grosser Anzahl, aber in bemerkbarer Unordnung darauf lagen. Die grossen Holzscheite in dem eisernen Ofen knisterten mitunter, und die Flamme und das erhitzte Petroleum surrten vernehmlich.

»Es sind jetzt gegen dreissig Jahre her, dass mich mein seliger Vorgänger in dieser Pfarre als Kaplan zu sich berief. Ich war damals wohl so alt wie Sie, fünfundzwanzig. Von vielen Seiten wurde ich noch gedrängt, erst, wie die meisten meiner Kommilitonen, nach Deutschland zu gehen, nach Leipzig oder nach Rostock, wo wir Ungarn grössere Stipendien geniessen, um dort meine theologischen Studien zu vervollständigen. Aber mir war das Studentenleben sauer geworden. Arm wie ich war, hatte ich mir durch Stundengeben fast jeden Bissen Brot selber verdienen müssen. Ich nahm also an, und so kam ich in diese Gemeinde. Das damalige Pfarrhaus war noch nicht so vornehm wie dieses. Es stand auf demselben Platze, aber das Dach war mit Stroh gedeckt, die Wände waren viel niedriger und die Öfen rauchten. Mitunter froren wir im Winter, aber es hat mir doch leid gethan, als es abgerissen wurde. In dem alten bin ich jung und glücklich gewesen, in das neue bin ich schon mit grauen Haaren eingezogen, vereinsamt bis auf meine Tochter. Meine selige Frau hat es nicht mehr erlebt … Mit dem geistlichen Herrn kam ich in ein so freundschaftliches Verhältnis, dass ich mich ihm gegenüber bald mehr als Sohn des Hauses, denn als sein Kaplan fühlte. Weniger gut gelang mir dies bei seiner Tochter. Er war Witwer und sie, die ebenso alt wie unsere Böske sein mochte, also neunzehn Jahr, führte ihm die Wirtschaft. Schüchtern und ohne Erfahrung im Verkehr mit Damen, ging ich ihr beinahe aus dem Wege, so dass wir uns eigentlich nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten sahen.

Wenn ich nach beendetem Nachtmahl mit meinem seligen Vorgänger, wie es gewöhnlich war, noch ein Stündchen am Tische sitzen blieb, um über Weltläufte oder Gemeindeangelegenheiten zu plaudern, sass sie immer ganz still am anderen Ende der Tafel, mit einer Häkelei beschäftigt oder in alten Jahrgängen einer illustrierten Zeitschrift blätternd. Mitunter glaubte ich dann zu bemerken, dass sie hier und da das feine Köpfchen hob und mich verstohlen von der Seite ansah. Es hätte aber auch eine Täuschung sein können, und so gab ich denn einige Zeit hindurch acht, bis es mir gelang, ihre Augen mehrmals auf frischer That zu ertappen. Wenngleich ich mir nichts dabei dachte, beunruhigte mich das doch, und ich musste mir Mühe geben, mit meinen Gedanken bei dem Thema des Gesprächs zu bleiben, das der geistliche Herr mit mir führte.

Freitag, 4. August 2023

In der Anstalt

 


In der Anstalt.

Ein Bild aus dem Leben.

von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Nicht weit von einer westdeutschen Industriestadt liegt eine grössere Zahl schmucklos, aber gefällig gebauter Häuser. Durch grössere Entfernungen voneinander getrennt, verstreuen sie sich über ein weites, hügeliges Gelände, das hier und da mit Wald bestanden ist. Grösstenteils werden sie von Kranken bewohnt, denen die kräftige Luft und der tiefe Frieden wohlthut.

In einem der Häuser jedoch werden keine körperlich Leidenden aufgenommen. Dies ist das Haus, das am weitesten der Stadt zugeschoben und durch ein eisernes Gitterwerk von der Landstrasse getrennt ist. Es ist die Domäne derer, die Schiffbruch im Leben gelitten haben, das Asyl der Gestrandeten.

Es beherbergt nur Leute aus besseren Lebensschichten. In der Überzahl sind die Offiziere a. D. Etliche Geistliche sind auch darunter, mitunter auch ein Schriftsteller oder ein Redakteur.

Mannigfaltig ist ihre Schuld und ihr Schicksal; mannigfaltig sind die Wege, die sie hierhergeführt; allen gemeinsam aber ist der dumpfe Gram, der ihre Tage verbittert und der sie allmählich stumpf macht gegen das Aussenleben, der allmählich auch ihre Sehnsucht, wieder hinauszufliegen, erdrückt, und erst mit dieser Sehnsucht matter und matter wird.

Die meisten der Herren sind schon längere Zeit da. Man unterscheidet sie leicht von den übrigen Bewohnern der Anstalt. Sie tragen einen Zug schmerzlicher Resignation im Gesicht, und ihre Augen blicken auf ein vergangenes Leben.

Hier und da gemahnen noch Gang und Gebärde an die frühere gesellschaftliche Stellung. Sonst kommt sie selten zum Vorschein. Besonders nicht in der Kleidung. Wenn beim Essen ein Tropfen Suppe oder Bratensaft auf den Rock fällt – nun, so schadet das nichts. Gereinigt wird er deswegen doch nicht. Für wen auch? Untereinander hat man sich gegenseitig nichts vorzuwerfen und ausser der alten Dame, welche die Wirtschaft führt, und ihren beiden Dienstmädchen ist kein weibliches Wesen für sie vorhanden. In die Stadt zu gehen ist ihnen auch nicht erlaubt, weil es zum Teil der Alkohol war, der sie hierhergebracht.

Da ist der Hauptmann und Oberamtmann a. D. von Wegeler, der ein tüchtiger, pflichttreuer Beamter war, bis ihm sein junges Weib im ersten Kindbett starb. Von da ab hatte er keinen Sinn mehr für seine Akten gehabt und vom frühen Morgen an bei der Flasche gesessen. Man schonte ihn so lange als möglich; eines Tages aber war er schwer betrunken an das offene Grab eines alten Soldaten getreten, um ihm nach dem Geistlichen als Vorsitzender des Kriegervereins ebenfalls einige Worte nachzurufen. Hin und her taumelnd hatte er einige unzusammenhängende Sätze hervorgestossen, bis er endlich gänzlich das Gleichgewicht verloren hatte und auf den blumengeschmückten Sarg gefallen war. Es hatte einen dumpfen Schall gegeben, der oben einen entrüsteten Widerhall fand und laut genug war, um bis zum Minister zu dringen. Er hat nachdem nicht mehr amtiert und trug sein Weh in die stillen Räume der Anstalt. Vom Trunk liess er bald; auch die Wunden, die ihm der Tod seiner Frau geschlagen, vernarbten in der alles heilenden Zeit. Dafür überkam ihn aber die Energielosigkeit eines Lebens, dem jeder Sporn fehlt, die Resignation eines Lebens, das sich selber verloren giebt.

Sein Zimmergenosse, ein kleiner, pommerscher Pastor, der wie eine Karikatur aus dem vorigen Jahrhundert aussieht und eine verbitterte, boshafte Zunge hat, bedurfte keines so jähen Anstosses, um ein Trinker zu werden. Fünfundzwanzig Jahre in einem elenden Dorfe, ganz einsam, ohne Verkehr, ohne Bücher und geistige Anregung hatten ihn ganz allmählich dazu gemacht. Die Bauern hatten oft Gelegenheit gehabt, einen Betrunkenen auf der Kanzel zu sehen, bis sich das hohe Konsistorium hineinmischte, und er abgesetzt wurde.

Dann wohnt ein junger, bildhübscher Mann dort, der kurz nach seiner Beförderung zum Oberleutnant in später Nacht einst angerauscht und durch einen Wortwechsel erregt aus dem Kreise seiner Kameraden geschieden und auf dem Heimwege mit der brennenden Cigarre einem Pulverschuppen zu nahe gekommen war. Der Posten hatte ihn auf die bestehenden Vorschriften aufmerksam gemacht, vielleicht in einem ungebührlichen Ton. Genug, der arme, betrunkene Leutnant hatte ihn mit der flachen Klinge über das Gesicht geschlagen. Verwundet hatte er ihn nicht, aber die Militärgesetze lassen nicht mit sich spassen. Er bekam den schlichten Abschied, und da er zu keinem anderen Berufe vorgebildet war, landete auch er hier.

Ach, es sind seltsame Schicksale, die sich hier zusammenfinden! …

In dumpfem Gram, in stumpfer Resignation schleppen sie ihre Tage dahin. Die Erinnerung, in der sie überhaupt nur leben, das Fehlen des weiblichen Elementes, das schon manchen zu neuem Aufstieg trieb, das Fehlen jeglicher Berührung mit den brausenden Stürmen und Strömen der Freiheit, das lässt sie ganz verkümmern.

Einmal schlug aber doch eine Welle der Aussenwelt auch in ihren Frieden.

Eines Tages blieb Herr von Wegeler, der als erster der Herren gegen Mittag das Speisezimmer betrat, überrascht in dem Thürrahmen stehen. Auf seinem dicken, aber bleichen Gesicht spiegelte sich ein fassungsloses Erstaunen, das sich mehr oder minder auch in den Zügen der nachfolgenden ausdrückte.

Neben der Wirtschafterin, einer Pastorenwitwe, stand eine junge, hohe Mädchengestalt. Das Haar lag ihr in schweren, goldenen Flechten auf dem Haupte, und ihre Augen waren schön und klug. Sie hatte das Aussehen einer vornehmen Dame, wenn sie auch nur eine Erzieherin war, die ihre Tante besuchte.

Nach der Gesamtvorstellung, die von seiten des Hausvaters, eines weissbärtigen Greises, erfolgte, schien sich die allgemeine Erregung etwas zu legen. Man ass seine Suppe wie gewöhnlich, nur dass hier und da verstohlene Blicke zu dem Fremdling hinüberstreiften. Bald kam aber die zweite Sensation. Das Fräulein, das einige Zeit verwundert auf die schweigenden Gesichter gesehen hatte, begann ein Gespräch. Seit Menschengedenken plauderte man nicht am Anstaltstisch. Es war immer, als ob der allgemeine Gram jedes Wort in den Kehlen zurückgehalten hatte. Sie aber stellte harmlos dem ihr gegenüber sitzenden Hausvater allerhand Fragen, sprach dann über das Wetter, Krankheiten und den englischen Nationalcharakter und zog allmählich auch Herrn von Wegeler in die Unterhaltung.

Dabei bemerkte er plötzlich, dass sie mit einem Blick grenzenlosen Erstaunens seinen Rock betrachtete, und zum erstenmal seit langer Zeit dachte er daran, dass der ja ganz entsetzlich schmutzig sein musste. Eine brennende Röte flog über sein Gesicht. Dann aber trat der ehemalige Offizier in ihm hervor. Mit Gewalt seine Verlegenheit niederzwingend, setzte er sich durch lebhaftes Geplauder über das Peinliche dieses Augenblicks hinweg, und schon nach wenigen Minuten waren in ihm wie in den übrigen am Tische Sitzenden wenigstens die Formen der besseren Vergangenheit wieder lebendig geworden.

Kaum dass sie die Tafel verlassen hatten, wurde von allen Seiten nach dem Hausdiener gerufen, und eine halbe Stunde später trabte dieser, keuchend unter der Last von vierzehn Oberröcken der Reinigungsanstalt zu. Herr von Wegeler zog sich seinen Sonntagsstaat an, und selbst der Ministersohn, der so lange Jura studiert hatte, bis ihm die Haare ausgegangen waren, suchte sich eine frische, lachsfarbene Krawatte hervor, obwohl er dabei murmelte, dass es doch eigentlich nur eine Erzieherin sei.

Beim Nachmittagskaffee boten sie einen anderen Anblick. Selbst der kleine Pastor, der immer in den Kleiderschrank stieg, um dort einen heimlichen Kognak zu sich zu nehmen, hatte sich rasiert und seine Hände gründlicher als sonst gewaschen. Die, der zu Ehren das alles geschehen war, liess sich zunächst aber nicht blicken. Als sie endlich doch erschien, war sie im Ausgehkostüm und trug den Sonnenschirm in der behandschuhten Hand.

 

»Meine Herren,« rief sie fröhlich, »wer von Ihnen will so freundlich sein, mich auf die Ziegelburg zu begleiten? Tante hat natürlich keine Zeit dafür!«

Eine Sekunde blieb alles still. Jeder dachte daran, dass es ihnen streng untersagt war, das Anstaltsgebiet zu verlassen. Dann aber schoben sich dreizehn Stühle zurück, und bis auf den Pastor erklärten sie alle, dass es ihnen ein besonderes Vergnügen sein würde.

Ein Lächeln in den schönen Augen, sah sie von einem zum andern.

»Die Herren sind zu liebenswürdig,« meinte sie dann. »So viel Kavaliere auf einmal würde aber doch beängstigend sein. Herr von Wegeler und Sie, Herr Leutnant, wenn ich bitten darf. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Und nach einem graziösen Kopfnicken ging sie den beiden Auserwählten voran.

Nachdem sie den hohen Burgberg bestiegen und die entzückende Aussicht genossen hatten, die bei einem mässig guten Glase bis zur Porta Westphalica reicht, schlug sie vor, noch einmal in die Stadt zu fahren, wo sie einen kleinen Einkauf zu besorgen hatte. Herr von Wegeler und der melancholische Leutnant folgten ihr auch dahin. Zum zweitenmal übertraten sie damit die jahrelang eingehaltenen Anstaltsvorschriften. Aber was sollten sie thun? Der blosse Gedanke, ihr gestehen zu müssen, dass sie wie Schulkinder nur eine sehr begrenzte Bewegungsfreiheit genossen, trieb ihnen schon die Scham in das Gesicht, und beiden schoss es wie ein Blitz durch das Gehirn, dass es doch eigentlich schmachvoll wäre, in solcher Abhängigkeit zu stehen – sie, zwei kräftige, gesunde Menschen!

Als sie heimkehrend die auf das Anstaltsgebiet führende Thür öffneten, sahen beide noch einmal zurück und in ihre Augen trat ein seltsamer Ausdruck. Dort lag die Stadt. Ihre Lichter funkelten zu ihnen herüber, und wie ein dumpfes Brausen schlug der Lärm der geschäftigen Freiheit an ihr Ohr. Das Haus vor ihnen aber lag tot und still.

Herr von Wegeler konnte in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen. Die Idee, wieder hinauszutreten, liess ihm keine Ruhe. Und am nächsten Tage nahm er einen grossen Bogen Papier zur Hand, auf dem er eine Eingabe an das Ministerium zu entwerfen begann. Er kam damit jedoch nicht zu Ende. Immer wieder hatte er zu streichen und zu verbessern, und so verschob er die Absendung denn von einem Tage zum andern und besserte tagtäglich daran herum.

Es war allmählich ein ganz anderes Leben in die Anstalt gekommen. Die Herren hielten wieder auf ihre Kleidung, bei Tische wurde geplaudert, die Tagesereignisse besprochen, hier und da auch ein Scherz gemacht. Selbst untereinander grüssten sie sich verbindlicher, und wenn einer das Rasieren vergessen hatte, trafen ihn missbilligende Blicke. Der melancholische Leutnant bürstete sogar seinen Schnurrbart hoch und legte regelmässig eine Bartbinde an, wodurch er gleich viel weniger melancholisch aussah.

An allen Ecken und Enden merkte man es, dass ein frischer Wind durch die modrige Luft der Resignation gefahren war.

Die Gouvernante hatte aber nur einen kurzen Urlaub. Schon am nächsten Sonntag musste sie fort, über den Kanal zurück in die erwerbende Fron der Kindererziehung.

Als sie sich von den Herren verabschiedete, wurde es von keinem besonders schmerzlich empfunden. Verliebt war ja niemand in sie, und niemand hatte daran gezweifelt, dass sie über kurz oder lang wieder verschwinden würde.

Bei der nächsten Mittagstafel hatten aber dennoch alle ein eigentümliches Gefühl. Die alte Pastorenwitwe sass grämlich auf ihrem Stuhl, der Hausvater hatte den weissen Kopf beinahe ganz in die Schultern hineingezogen, und die Herren sahen trübe in ihre Suppe, die auch weniger Fettaugen zu haben schien wie früher. Einmal versuchte der Ministersohn mit der roten Krawatte, ein Gespräch einzuleiten. Er erhielt aber nur einsilbige Antworten.

Am nächsten Tage war der Stumpfsinn wieder in alle seine Rechte eingesetzt. Die Röcke wurden wieder fleckig, Herr von Wegeler überliess seine Eingabe den Mäusen, der Leutnant bürstete sich den Bart nicht mehr, der kleine Pastor fing wieder an, das Rasieren und Händewaschen für Zeitverschwendung zu halten, und wenn des Abends die Lichter der Stadt herüberfunkelten, sah sie niemand mehr an.

Für wen auch?

Es war eine Welle der Aussenwelt auch in ihren »Frieden« gedrungen, aber sie ebbte viel zu früh zurück. Ihre Seelen sinken wieder in den alten Schlaf. Wie das graue Haus in der Dämmerung liegen sie da, tot, still, träge, während doch ganz in ihrer Nähe das Leben sich in gigantischer Arbeit regt und mit roten, funkelnden, bösen Augen zu ihnen herübersieht.

 

 

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