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Freitag, 21. Juli 2023

Der alte Steffen

 


Der alte Steffen.

 von Georg Busse-Palma

 Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Im Osten der Universitätsstadt erhebt sich das Armenhaus. Es ist aus massiven, grauen Steinen gebaut und hat zwei Stockwerke. In dem oberen befinden sich aber nur die Krankensäle, so dass die noch rüstigen Insassen von der schönen, kleinen Stadt fast nichts zu sehen bekommen. Denn aus ihren niedrig gelegenen Fenstern können sie die Mauern, die das Haus umschliessen, nicht überblicken, und Urlaub bekommen sie sehr selten.

Im Winter ist das zu ertragen. Wenn der Regen gegen die Scheiben schlägt oder die Flocken immer dichter und dichter herniederwirbeln, frieren die alten Leute und sehnen sich nicht nach draussen. Nur der alte Steffen vielleicht. Aber auch der denkt dann nicht an die deutschen Thäler und Gebirgsketten, die dann doch rauh und ungastlich sind. Er träumt von der heissen, brennenden Tropensonne, trotzdem gerade sie ihn so krank und elend gemacht hat.

Er ist schwach auf den Beinen und hat keine Kraft in den Händen.

Mehrere Jahre hindurch ist er Plantagenaufseher in Java gewesen und mit blossen Füssen über die Felder gegangen, bis sein Rückenmark verdorrt und er überflüssig geworden war. Da kam er nach Deutschland zurück, und fünf Jahre schon lebte er im Armenhause.

Aber in dem Druck der grauen, freudlosen Gegenwart kann er die Zeiten nicht vergessen, wo er als Lanzknecht die halbe Welt durchfahren. Er hat unter der Tricolore und unterm Halbmond gefochten, ist bei Sewastopol im Feuer gewesen und hat in Tonkin geblutet. Dann ist er zu den Holländern desertiert, und dort im Civildienst hat ihn das Unglück getroffen.

In der Schar seiner Hausgenossen ist er immer noch eine imposante Erscheinung. Unter Zwergen und Krüppeln und zahnlosen, ewig kauenden Bettlergestalten tritt seine stämmige Figur wirkungsvoll hervor. Der massige Kopf mit der kräftigen Nase, mit dem kurzen, grauen Vollbart und den hellen Augen muss gut aussehen, wenn eine Fahne über ihm flattert.

Gewöhnlich scheint er recht gleichmütig und ruhig. Manchmal aber fangen seine Augen an zu glühen und zu blitzen. Das ist, wenn die Sonne scheint. Jedem Sonnenstrahl sieht er dann nach.

Jetzt ist die Zeit seiner Marter und qualvollsten Wonne. Es ist Frühling geworden.

Stundenlang sitzt er täglich auf der verwitterten Holzbank im Hofe. Wenn er die Wimpern hebt, sieht man eine verzehrende Sehnsucht hervorlodern. Denn die Schwalben haben unter dem Giebel gebaut, und ihre Schwingen streifen um sein Gesicht, die Bäume grünen und sind voll junger Knospen, zwischen den Steinen im Hof schiessen schmale Gräser hervor, und die Vergangenheit wird in ihm lebendig.

Seit zwei Tagen hat er nicht mehr gesprochen und wird noch weitere Tage nicht sprechen. Seine Kameraden aber wissen, dass jetzt die Abende kommen, wo er erzählen wird, heiser vor Erregung, aber ein Poet in seiner sehnsuchtsreichen Qual.

Wenn sie alle zu Bette sind und nur die Nachtlampe rötlich glühend durch den dunklen Schlafsaal schaukelt, richtet er sich auf in den Kissen. Und er spricht von seiner Jugend und ihrer Sonne und Selbstherrlichkeit. Wie er in schimmerndem Segler über blaue Meere gefahren, und von den grünen Küsten Kleinasiens Marmorhäuser herüberwinkten und der glänzende Ölbaum. Wie er in Albanien biwakierte und mit Baschi Bozuks um ein Marschallsross gewürfelt, das feinere Glieder hatte als eine Königstochter und dessen Nüstern rosig waren wie der duftigste Nelkenkelch. Wie er in Algerien Feldwache gestanden in Palmenhainen und Dattelwäldern und einen Kabylen erschlagen um einen Trunk Wasser. Wie er in schaukelnder Dschunke den heiligen Strom durchglitten, vorüber an rauschenden, undurchdringlichen Dschungeln, unter Bäumen, die, im Lande wurzelnd, sich weit über das Wasser reckten und in deren dichtem Astwerk schlanke, bunte Königstiger lauerten, lautlos mit geschmeidigem Schweife die Flanken peitschend. Er spricht von Tropensternen und zierlichen havanesischen Frauen, von wirbelnden Trommeln und toten Freunden; nur von seiner Sehnsucht spricht er nicht.

Wenn er dann aufhört, beisst er in den Bettpfosten und zerreisst sein Leinen. Der Verwalter straft ihn dafür, aber seine Zuhörer schenken ihm Cigarren und Kautabak, weil sie ihn bewundern.

All die Jahre schon ist es ihm sauer genug gewesen, hier sein Leben zu verbringen. Doch hat er sich darein gefunden, wenn es ihm auch in jedem Frühling fast passierte, dass ihn Landleute meilenweit von der Stadt hilflos am Wege trafen und zurückbrachten. Beim Ausgehen hatte er nie daran gedacht, zu entrinnen, aber was soll denn ein alter Landstreicher nur machen? Ist der Frühling nicht stärker als sein Wille? Der Frühling hatte ihn verlockt, weit hinaus, immer weiter, bis die kranken Füsse ihn nicht mehr trugen.

Jetzt hat er nur noch eine Furcht und eine Sorge. Leben muss er im Armenhaus, aber sterben will er nicht in den dumpfen, drückenden Mauern. Es graut ihm davor, und er zittert, wenn er nur daran denkt. Er will sterben, wie das Wild stirbt, einsam im Wald, wenn die Dämmerung durch die Zweige tropft und die Sonne im Verglühen ist. Auch der Tod ist ein scheuer Gott und milder in der Einsamkeit. Seine Hände sind dort weicher und seine Lippen liebreicher. Eine Hirschkuh darf dabei sein und eine singende Drossel, aber nimmermehr ein Mensch.

So hat er sich denn einen Plan gemacht. Jetzt, wo es wieder Frühling ist, will er einen Ort suchen gehen, zu dem er sich flüchten kann, wenn er sein Ende nahen fühlt. Einen Ort des Alleinseins und eine Stätte des Friedens.

Die Sonntagsglocken läuten, und Steffen zieht seine besten Kleider an und bittet um Urlaub. Er erhält ihn auch und geht, so schnell ihn seine schwachen Füsse nur tragen wollen, durch die Stadt. Er achtet nicht der schmucken Giebelhäuser und der spielenden Kinder an den Wegen. Seine Augen glänzen, und seine Nasenflügel zittern vor Erregung. In tiefen Zügen trinkt er die weiche, köstliche Frühlingsluft.

Bald ist er ganz im Freien. Wohin er nur sieht, alles ist voll saftigen Grüns. Die sanft aufsteigenden Berge scheinen wie dunkler Sammet, und der Fluss, der sie weich und silbern umschmiegt, wie der Pelzbesatz am Saum eines Herzoginkleides. Kein Ast so klein, dass er nicht voller Knospen wäre, und überall schon heben sich junge Blütchen aus den Wiesen und der jungen Roggensaat. Er hört ein Rotkehlchen im Weissdorn singen und sieht einen Citronenfalter durch die Sonne tanzen, und sein Herz schwillt vor Jubel. Denn es ist das Herz eines Landstreichers und hat keine andere Liebe als Natur und Freiheit, die es nicht zu trennen vermag. Es ist das Herz eines Landstreichers und voll Ehrfurcht vor dem göttlichen Mysterium der ewigen Schönheit und Erneuerung.

Nun späht er umher. Oben auf dem Bergeskamme sind die dichtesten Wälder und dunkelsten Gründe. Dort will er sein Grab wählen.

Eine Stunde wohl wandert er durch den Forst. Endlich hat er etwas Passendes gefunden: eine tiefe Mulde, eng umstanden von verwitterten Kiefern. Die Gräser darin sind niedergedrückt, aber sein geübter Blick erkennt unschwer, dass es nur Rehe waren, die hier genächtigt haben.

Er kann darin liegen und sich strecken nach Herzenslust. Er sieht dem Himmel ins Gesicht und weiss, dass man ihn hier nicht finden wird. Das freut ihn, und fröhlich kehrt er zur Stadt zurück.

Jetzt sieht er die spielenden Blondköpfe und streichelt sie. Jetzt sieht er auch die Häuser mit den altertümlichen Giebeln, mit den blanken Fenstern und den Rebenvorhängen. Jetzt freut er sich auch der Stadt, weil er gewiss ist, dass sie ihn nicht halten wird in seiner letzten Stunde.

Im Armenhause wieder angelangt, holt er sich ein weiches Brettlein und versucht ein Kreuz zu schnitzen. Seine Hände sind schwach und vermögen das Messer nicht gut zu führen. Er wird wohl viele Tage lang sitzen müssen, ehe es glatt und glänzend ist. Aber er hat ja Zeit und ist geduldig. Sein Antlitz wird immer welker, aber sein stilles Lächeln auch immer lichter. Sein Herz wird weit, wenn er daran denkt, wie seine Finger das Kreuz umschliessen werden, wenn er seinen letzten Gang geht.

Er sieht die Stunde schon kommen in einem weissen, schimmernden Glanz. In leuchtenden Wolken wird der Vollmond stehn und unzählige Sterne. Die Luft wird duftig sein und wie halbverblühte Veilchen in den Farben. Um die Stätte des Friedens aber wird ein Falter fliegen, ein grosser, mit sammetdunklen Flügeln. Der wird sich auf seine Wimpern setzen und ihm die Augen schliessen, tausendmal weicher als jede Menschenhand – – – –

 

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