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Freitag, 14. Juli 2023

Ein Kind der See

 


Ein Kind der See.

 von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Er war ein Antwerpener.

Sein Vater, dessen Glieder die Gicht gekrümmt hatte, verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem offenen Meer, das er Jahrzehnte lang befahren hatte. Als kleiner Hafenbeamter wohnte er dicht am Wasser, und über die Wiege seines Kindes flogen die herben, salzigen Seewinde. In die Schlummerliedchen, die ihm die Mutter sang, schrillten die Dampfpfeifen, und wenn er des Nachts sein heisses Köpfchen aus den Kissen hob und durch das Fenster sah, glotzten ihn aus der Ferne böse, rotglühende Augen an. Er fürchtete sich aber nicht lange vor ihnen, denn ehe er noch sprechen konnte, wusste er schon, dass sie kein Spuk, sondern nur die Laternen mächtiger, dunkler Schiffskolosse waren, die sich schwerfällig durch den Kanal dem geräumigen Hafen zu bewegten.

Kaum, dass er die Kinderschuhe ausgetreten hatte, ging auch er zur See. Als Leichtmatrose fuhr er auf einem Kauffahrteischiff.

Da kam es, dass sein Grossvater mütterlicherseits, der tief im Binnenlande wohnte, um eine Mitternacht den Tod an die Thüre seines Gehöftes pochen hörte. Auch die Klinke hatte geknirscht, aber der hagere Schnitter war noch einmal vorübergegangen. Nur gemahnt hatte er den Alten. Am Tage darauf ging dieser zu dem Geistlichen des Ortes und liess sich einen Brief schreiben an seine Tochter, die Mutter von Henrik Jansen junior. Einen Brief des Inhalts, dass sein Enkel zu ihm kommen solle, damit, wenn der Schnitter wiederkäme, einer da wäre, der die gemähte Garbe in die Scheuer bringe und ihm ein Erbe, dem Gehöft aber ein neuer Herr sei.

Jansen jun. stiess anfänglich nur ein unartikuliertes Grunzen aus, als seine Mutter ihm davon Mitteilung machte. Da er gerade nicht geheuert war, reckte er seine mächtigen jungen Glieder auf der Ofenbank und faulenzte. Er dachte aber immer daran, dass er bald wieder fahren würde, und es wollte ihm durchaus nicht in den blonden Schädel, dass er überhaupt von der See weggehen und als Binnenländer leben könnte. Zwischen Leuten, die noch nie einen schwimmenden Balken unter den Füssen gehabt! Lächerlich war dies einfach. Und am Schluss dieser Gedankenkette spie er verächtlich ein Stück Kautabak in weitem Bogen durch das geöffnete Fenster.

Seine Mutter, die früh verhärmt und früh gealtert aussah, liess aber nicht nach. Für sie, die tief im Lande Geborene, waren Meer und Schiffahrt immer nur unersättliche Mörder gewesen. Zwei Brüder ihres Mannes hatten sie auf dem Gewissen. Der eine war ertrunken, der andere hatte sich das gelbe Fieber geholt und war in der Fremde verscharrt worden. Sie fürchtete für ihren Sohn und wurde nicht müde, auf ihn einzureden.

Es dauerte aber lange, bis sie seine schwerfälligen Gedanken auf den Punkt gebracht hatte, von dem aus gesehen das Binnenland lieblich war. Als er jedoch einmal sich selber sagte, dass es prächtig sein müsse, auf eigenem Grund und Boden zu stehen, wo er keinem Kapitän und keinem Steuermann zu parieren brauchte – da hatte sie gewonnenes Spiel.

Jansen jun. erhob sich von der Ofenbank, trank einen Genever und siedelte dann zu seinem Grossvater über.

Das Dorf, in welchem dieser wohnte, war fett und nahrhaft und seine eigene Wirtschaft desgleichen. Als der Alte seinen Enkel bei sich hatte, neigte er das Haupt, so tief wie eine Ähre im Juli. Bald knirschte die Klinke zum zweiten Male, und diesmal ging der Fremde nicht vorüber; im Gegenteil gab er dem Landwirt gewordenen Matrosen Gelegenheit, ein würdiges Leichenbegängnis zu veranstalten und sich als Herrn eines gesegneten Ackers, eines stattlichen Gebäudes und mehrerer Joch Ochsen zu fühlen.

Ein alter, erfahrener Knecht war da, so dass es an der kundigen Hand nicht fehlte und Jansen jun. Zeit hatte, die Schönheit des Binnenlandes kennen zu lernen.

Anfänglich erregte alles seine Bewunderung und Freude. Die wogenden, goldgelben Ähren, die ihm fast bis an die Schulter reichten, die fruchtstrotzenden Obstbäume und nicht zum mindesten der sagenumwobene Klapperstorch, der sich hier auf der sumpfigen Wiese behaglich Frösche fing, – es waren ihm entweder ganz fremde Erscheinungen, oder doch nur wie flüchtige Traumbilder, irgendwo in der Vergangenheit gesehene. So verging ihm der Sommer schnell und fröhlich. Solange ihm alles neu und fremd war, gefiel ihm das Dorf, den Herbst hindurch und auch den Winter über. Wenn es ganz grimmig kalt war und er in dem mollig erwärmten Zimmer sass, schmunzelte er sogar mitunter bei dem Gedanken, dass er das Jahr vorher um diese Zeit an der englischen Küste getrieben hatte, wo es so kalt war, dass die Haut der arbeitenden Hände in Fetzen an den gefrorenen Tauen kleben blieb. Ach, da war es hier am Kamin doch behaglicher! Und er stopfte sich eine neue Pfeife, trank einen neuen Genever und war zufrieden.

Als es aber Frühling wurde, ging er umher wie ein Verlorener. Es drückte ihn etwas. Wie ein Stein lag es auf seiner Brust. Manchmal war es ihm, als ob er an dem fetten, kräftigen Erdgeruch ersticken müsste. Die ganze Luft war durchtränkt von ihm und selbst der Wind war fett und erdig.

Er klagte dem Geistlichen sein Leid.

 

Der behäbige Herr hob nachdenklich seine linke Hängebacke ein wenig in die Höhe und gab ihm dann einen Rat.

– »Wissen Sie, Jansen,« sagte er ihm, »Sie müssen heiraten! Sie haben hier weder Freunde noch Verwandte, und das drückt. Die Einsamkeit schadet Ihnen. Denn sonst,« er schnüffelte dabei behaglich umher, »muss ich sagen, dass die Luft hier sehr angenehm ist. Durchaus angenehm!« –

Jansen beugte sich der geistlichen Autorität.

Unter den breiten Hauben des Dorfes war eine, deren Trägerin ihm besonders gefallen hatte. Zu der ging er, und sie sagte nicht nein. Im Herbst sollte es Hochzeit geben.

 

Den dumpfen Druck wurde er dadurch aber nicht los. Die wilde, prächtige Romantik des Seelebens wurde in seinem einfältigen Herzen übermächtig, seitdem das Rauschen der Wellen und der Schrei der Möwen nicht mehr an sein Ohr schlugen.

In der Nacht, wenn ein toller, übermütiger Wind die alten Fichten in dem nahen Gehölz bog, dass sie ächzten und stöhnten, richtete er sich oft im Bette auf, und es schien ihm, als müssten es Maste sein. Als ob er wieder wie einst an der See lebte, schlürfte er mit durstigen Atemzügen dann die Luft ein. Aber vergebens suchte er den herben, prickelnden Geschmack. Die fette Erde spürte er nur, und seine Lungen schlossen sich wieder, soweit es nur möglich war.

Auch am Tage brütete er oft stundenlang vor sich hin. Seine beste Freundin dabei war die Geneverflasche. Unaufhörlich schenkte er sich daraus ein. Beim zehnten oder zwölften Glas biss es ihm dann in der Nase, als ob ein Seewind hineingeblasen hätte, und seine Träume wurden immer lebhafter, bis er mit schwerer Faust auf den Tisch schlug und in die Kammer ging, seinen Rausch und seine Sehnsucht miteinander zu verschlafen.

Sein Hochzeitstag war trübe und stürmisch. Ein kräftiger Wind sprang ihm in den Nacken, als er in die Kirche ging, und als er mit seiner jungen Frau Hand in Hand wieder hinaustrat, verfing sich derselbe Wind so heftig in ihren weiten, bauschigen Röcken, dass sie für einen Augenblick von ihm lassen musste und es kalt und gell zwischen sie hindurch pfiff. Des jungen Ehemanns Nüstern öffneten sich weit und gierig. Nein, der roch nicht nach fetter Erde! Der kam von der See. Von der endlosen, rauschenden See! –

In der darauf folgenden Nacht schlug der Regen unaufhörlich gegen die Scheiben, und der Sturm hörte nicht auf zu blasen. Er blies durch die in der Mitte gehöhlten Dachziegel, die Hunderte von Pfeifen bildeten, und wüst und phantastisch klang es bis in das Schlafzimmer hinab.

In später Stunde, als sein Weib schon eingeschlafen war, richtete sich Henrik Jansen plötzlich jäh empor.

Was war das?

Die Hand hinter der Ohrmuschel, lauschte er hinaus. Seine Brust hob sich keuchend, der Schweiss trat auf seine Stirn.

Hatte ihn ein Spuk geäfft?

Aber nein, da war es ja wieder!

Durch das Pfeifen des Windes, durch das Rauschen des Regens schlug deutlich vernehmbar ein dumpfes, dröhnendes Tuten, wie aus weiter Ferne, an sein Ohr.

Das ist ein Nebelhorn!

Das ist die Stimme eines Schiffes, die warnend die Finsternis zerreisst!

Wo kommt es her?

Zitternd vor Erregung steigt er aus dem Bett und tritt an das Fenster. Er öffnet es, doch jetzt hört er wieder nur Wind und Regen. Bald aber erhebt es von neuem die Stimme. Dumpf tutend, wie aus weiter Ferne, aber doch schon näher.

Seine Schläfe glühen, fiebernd späht er hinaus. Jetzt müssen die Augen ja auftauchen, die roten, glühenden Augen!

Es fällt ihm ein, wie er, seiner Erinnerung nach zum erstenmal, ein Nebelhorn gehört. Er war noch ganz klein und erschrak. Seine Mutter aber erklärte es ihm.

– »Das ist einer vom Bremer Lloyd,« sagte sie, »der jetzt einfährt.« Und ein anderes Mal fing sie an zu lachen. »Der brüllt wie ein sterbender Bulle. Das ist der ›Flandern‹ von der Red Star Line.« –

 

Oh, er hatte sie bald alle gekannt. Einige davon hatten eine Stimme wie keifende Marktweiber und andere, wie besonders das kleine Harwichboot, hatten eine Grogkehle und waren ewig heiser.

Dieses Horn aber kannte er nicht. Wind und Regen störten den reinen Klang, ebenso die Ferne, aus der es zu kommen schien.

Doch mit einem Male tönte es ganz in seiner Nähe. Und als er die fieberhaften, sehnsüchtigen Augen dorthin wandte, sah er einen alten, gebückten Mann, der ein mächtiges Kuhhorn an den Lippen hielt. Es war der Gemeindewächter.

Wind, Regen und Sehnsucht haben dich getäuscht, Henrik Jansen!

Henrik Jansen versuchte zu lächeln, sein Gesicht verzerrte sich aber nur. Langsam schloss er das Fenster, doch zu Bette ging er nicht.

Er setzte sich stumm an den eichenen Tisch und schlug die Hände vor das Gesicht. Dort blieb er bis zum Morgen, und sein ganzer, riesiger Körper bebte vor weinender Sehnsucht …

 

 

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