Dunmoore - Kapitel 6: Die Stimme aus der Tiefe

 


Kapitel 6: Die Stimme aus der Tiefe

Die Dunkelheit war vollständig.

Der Nebel hatte das Dorf verschlungen, die Menschen verschluckt, den See verwandelt – in ein Auge, das ins Nichts starrte. Nur noch Stille – und das Summen einer fremden Ordnung, die sich über das Tal gelegt hatte.

Aileen Kerr lag auf den Holzbrettern des Stegs. Das Gesicht zur Seite gewandt, der Revolver aus der Hand geglitten, das Haar vom Nebel durchweicht. Sie atmete flach.

Aber sie lebte.

Und irgendwo in den Schichten ihres Bewusstseins regte sich ein Name. Kein Ruf. Keine Stimme. Nur ein Gedanke, der nicht ihr eigener war – aber sie aufrichtete wie ein unsichtbarer Arm:

Lia.


Das vergessene Kind

Aileen wankte durch den Nebel. Der See hinter ihr, das Herz pochte. Der Steinkreis – dorthin musste sie. Jonas’ letzte Nachricht. „Schließt den Kreis.“

Doch bevor sie den Pfad erreichte, hörte sie eine Stimme.

Jung. Klar. Und zugleich uralt.

„Du bist zu früh.“

Aileen wirbelte herum. Da stand sie.

Ein Mädchen? Eine junge Frau? In einen dunklen Umhang gehüllt, das Haar schwarz wie Tinte, die Augen grau wie der Nebel selbst. Ihre Füße berührten kaum den Boden.

„Wer… bist du?“ fragte Aileen.

„Ich bin Lia. Tochter von Morag. Enkelin der letzten Hüterin des Wissens. Ich bin die, die man vergessen wollte.“

Aileen trat einen Schritt zurück. „Morag ist tot.“

Lia senkte den Blick. „Ich weiß. Sie hat sich geopfert, um den Kreis zu verzögern. Aber du musst ihn schließen.“

„Wie? Ich… ich versteh das alles nicht.“

„Du musst ihn nicht verstehen. Du musst dich erinnern.“

„An was?“

„An Vertrauen.“


Das uralte Wissen

Lia führte Aileen zum alten Cottage von Morag. Es war unversehrt – als hätte der Nebel es vergessen. Innen war es warm. Eine Kerze brannte. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch.

Aileen trat näher. Alte Schriftzeichen, Skizzen des Steinkreises, das Symbol – aber diesmal eingebettet in ein Muster. Ein Netz.

„Es ist kein Zeichen des Bösen“, sagte Lia. „Es ist ein Siegel. Missbraucht. Verdreht. Es diente einst zum Schließen der Tore. Nicht zum Öffnen.“

„Und Jonas?“

Lia sah Aileen an. Für einen Moment blitzte in ihren Augen Trauer auf.

„Er ist noch da. Eingeschlossen. Nicht verloren. Aber er kann sich nicht selbst befreien.“
„Er hat sich angeboten, aber der Wächter hat ihn behalten.“

„Dann holen wir ihn zurück“, sagte Aileen. „Sag mir, was ich tun muss.“



Der Plan

Lia erklärte:

  • Die neun Steine des Kreises standen für die Grenzen zwischen Leben und Tod, Verstand und Wahnsinn.

  • Acht waren alt – aber der neunte war neu.

  • Der mittlere Stein war der Schlüssel – dort hatte der Wächter seine Wurzel geschlagen.

  • Um ihn zu vertreiben, musste der Kreis aktiviert werden – mit den vier Lichtern der alten Linie:

    • Feuer

    • Salz

    • Blut

    • Wille

Aileen verstand nur die Hälfte – aber sie spürte: Es war wahr. Keine Metapher. Kein Märchen.

Sie war jetzt Teil dieses Musters.



Die Vorbereitung

Noch in der Nacht begannen sie, die Zutaten zu sammeln.

  • Feuer: Eine geölte Fackel aus Morags Vorräten.

  • Salz: Aus dem Totenritual – ein altes Glas, begraben unter dem Kamin.

  • Blut: Ein Tropfen von Aileens Finger, vermischt mit Holunderbeere – uraltes Symbol für Opfer.

  • Wille: Aileen selbst.

Im Morgengrauen standen sie am Steinkreis.

Lia stellte die Fackel auf den ersten Stein. Das Salz auf den zweiten. Die Mischung aus Blut auf den dritten. Und dann drehte sie sich zu Aileen:

„Sprich. Was du gibst, musst du benennen.“

Aileen schluckte. Dann sagte sie:

„Ich gebe mich. Aber nicht in Angst. In Hoffnung.“
„Ich gebe mein Vertrauen.“
„Und ich fordere zurück, was der Nebel genommen hat.“
„Ich rufe Jonas Falk.“

Der Boden bebte. Der Nebel schrie.



Das Leuchten

Ein Licht brach aus der Mitte des Kreises. Nicht hell – sondern tief. Wie der Widerschein von Wahrheit.

Der Nebel wich zurück. Stück für Stück.
Und dann:
Ein Schatten.
Auf den Knien.
Zitternd.
Verletzt.
Aber lebendig.

Jonas.

Aileen stürzte zu ihm. Er sah sie an. Tränen in den Augen. Dann brach er zusammen.

Lia trat zurück in den Nebel. Aileen wollte ihr danken, ihr folgen – doch sie war bereits verschwunden.

Nur ihre Stimme blieb zurück:

„Der Kreis ist geschlossen. Noch nicht für immer. Aber für jetzt.“


Die Rückkehr

Jonas erwachte zwei Tage später im Pub – Isla war wieder da, als wäre nichts geschehen. Die Fensterläden waren offen. Der Nebel verzogen. Die Welt wirkte... leicht.

„Was ist passiert?“ fragte er.

Aileen hielt seine Hand. „Du warst der Schlüssel. Aber ich war das Schloss.“

Er lächelte schwach.

„Und Lia?“

Sie nickte nur.

„Manche gehen, damit andere bleiben können.“

 

Fortsetzung folgt nächste Woche. 



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