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Freitag, 1. März 2024

DIE NAHRUNG DER ZUKUNFT


HANS DOMINIK
DIE NAHRUNG DER ZUKUNFT

I.


Unsere Geschichte beginnt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, und unser Weg führt uns in die Tertia eines Gymnasiums. Es wird gerade eine Stunde Kulturgeschichte abgehalten und heute findet zur Freude der ersten, zum Schrecken der beiden letzten Bänke eine allgemeine Repetition statt.

»Primus, nennen Sie mir die Hauptkulturepochen der Menschheit«, sagte der Ordinarius Doktor Bunsen.

Der Angerufene erhob sich und begann, wie es sich für einen guten Primus ziemt, in fließender Rede: »Wir haben zuerst die Periode der Sammelvölker. Der einzelne sammelt dabei mit den Händen, was er an Pflanzen und Tieren erreichen kann, und das ist im allgemeinen nicht viel. Nur wenige Menschen kann ein großes Land in dieser Zeit ernähren. Es folgt die Periode der Jägervölker, die dem Getier mit Pfeilen und Speeren nachstellen. Soweit Bogenschuß und Steinwurf reichen, gehört ihnen die Welt, und wo früher ein Sammler kärgliche Nahrung fand, da bringen jetzt zehn Jäger reiche Beute mit. Auf die Jäger folgen die Hirten. Bei wachsender Volkszahl wurde die Jagd unsicher. Darum hat man allerlei Getier gezähmt. Man hält es in großen Herden und hat Fleisch in Hülle und Fülle. Aber bei wachsender Herde wird die Weide knapp. Schon Abraham und Lot müssen sich trennen, weil ihre Tiere zusammen nicht Gras genug finden. So kommen wir zwanglos zur vierten Periode, in der man nicht nur Tiere zähmt, sondern auch Nahrungspflanzen gewissermaßen zahm gemacht hat und auf Äckern anbaut. In landwirtschaftlichen Betrieben wird Fleisch und Brot erzeugt und wo vordem ein Jäger sich recht und schlecht, aber meistens nur schlecht durchschlug, da steht jetzt ein Dorf mit hundert Bewohnern. Aus dem wandernden Herdenbesitzer ist der seßhafte Ackerbauer geworden.« »Sehr gut, setzen Sie sich!« unterbrach der Lehrer. »Sekundus, wollen Sie mir die weitere Entwicklung vom Ackerbauvolk aus schildern.«



Der Gefragte begann: »Die landwirtschaftliche Periode reicht bis tief in das zwanzigste Jahrhundert hinein und ist auch heute noch nicht völlig überwunden. Als der Acker von Europa in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts seine Bewohner nicht mehr ernähren konnte, trat eine fünfte Epoche ein, die Periode des Welthandels, der Exportindustrie. Man fabrizierte in dem dicht bevölkerten Europa Kanonen, Rasiermesser, Baumwollstoffe und dergleichen in gewaltigen Mengen und verkaufte diese Dinge an die fruchtbaren Getreideländer von Amerika, Asien und Afrika. Aber man ließ sich nicht mehr bar bezahlen. Es kam kein Hartgeld dafür nach Europa. An Ort und Stelle tauschte man den erworbenen Geldanspruch sofort wieder gegen Fleisch und Getreide ein. Dieselben Riesendampfer, die von England und Deutschland Stahl und Zeugstoffe über die Ozeane schleppten, kehrten zurück, beladen mit unendlichen Fleisch- und Brotmengen. Der Brasilianer trug ein Hemd, das in Manchester gesponnen und gewebt war, und schoß seinen Gegner beim Kartenspiel mit einem Revolver über den Haufen, der in Solingen geschmiedet wurde. Auf den Tischen aber des Schmiedes in Deutschland und des Webers in England stand australisches Fleisch neben amerikanischem Kornbrot. Der Welthandel, in dessen Diensten eine unendliche Dampferflotte die blauen Ozeane durchfurchte, suchte auf diese Weise allen zu helfen.«

»Gut, weiter der dritte!« unterbrach Doktor Bunsen, während man auf der letzten Bank mit Genugtuung konstatierte, daß die Hälfte der Stunde verflossen war.

Der dritte fuhr fort: »England hatte als erstes Land mit dem Welthandel begonnen. Andere Völker mußten jedoch schnell folgen. Bereits im Jahre 1906 war unser Vaterland, Deutschland, in der Zwangslage, alljährlich für sechstausend Millionen Mark Maschinen, Stahlwaren und dergleichen an das Ausland zu verkaufen und dafür Fleisch und Brot einzuhandeln. Naturgemäß entbrannte ein scharfer Wettbewerb zwischen den exportierenden Völkern. Engländer, Deutsche, Amerikaner und Japaner rissen sich darum, irgendeinem Neger für seinen Reis ein baumwollenes Hemd zu verkaufen. Trotzdem ging die Sache so lange, bis besagter Neger auf die Idee verfiel, sich seine Badehose selber zu machen und seinen Reis selber zu essen. Ein Ackerbauvolk nach dem anderen kam in die Lage, sein Getreide für die eigene Volksmenge zu gebrauchen und seine Kanonen und Rasiermesser selber herzustellen. Bereits in den ersten zehn Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zeigte sich deutlich, daß der Welthandel nur ein vorübergehendes Aushilfsmittel sein, nur eine vorübergehende Linderung der Nahrungsnot bedeuten konnte.«

»Gut, der folgende«, rief Doktor Bunsen, und der Gefragte hub an: »Da nun Chinesen, Neger und Inder sich ihre Messer und Hemden selber fabrizieren, so mußte auch der Europäer wieder selber für sein Essen sorgen. Die Technik des zwanzigsten Jahrhunderts mußte Mittel und Wege finden, um im eigenen Lande Brot und Fleisch zu gewinnen. Das neunzehnte Jahrhundert hatte bedeutende Erfindungen und Fortschritte auf dem Gebiet der Fabrikations- und Verkehrstechnik gemacht. An Stelle der alten Postkutschen waren Dampf- und elektrische Bahnen getreten, die in der Stunde hundert Kilometer zurücklegten. In der Industrie stellten vorzüglich konstruierte Maschinen einen Gegenstand in fünf Sekunden her, an dem vor einem Menschenalter ein Mann noch fünf Tage arbeiten mußte. Nur der Ackerbau wurde noch nach der Urväter Weise betrieben. Auf ihn warf sich die Technik des zwanzigsten Jahrhunderts.«

»Gut, der folgende«, unterbrach Doktor Bunsen.

»Der Acker Europas war durch zweitausendjährigen Getreidebau erschöpft. Ihm wieder die üppige Fruchtbarkeit eines Urlandes zu verleihen, war Aufgabe der Technik. Dazu mußten die Stoffe wieder in die Erde gepackt werden, die ihr in zweitausend Jahren entrissen waren. Die Technik nahm sich der Aufgabe an und löste sie glänzend. In Deutschland hatte die gütige Natur in dem großen Salzlager von Staßfurt unendliche Mengen der Nährsalze gelagert, die das Getreide aus dem Acker nimmt. Millionen und aber Millionen von Zentnern dieses Salzes wurden von den Bergleuten aus der Tiefe geholt und über die deutschen Äcker verstreut. Bereits im Jahre 1905 wurden zehn Millionen Zentner davon gebraucht, und in quadratischer Steigerung hob sich der Verbrauch von Jahr zu Jahr. Wo immer in Deutschland Hochöfen loderten, da gab es phosphorhaltige Schlacke. Aus dem Ofenloch stürzte die weißglühende Schlacke in kaltes Wasser und zerfiel unter den Stößen mächtiger Pochwerke in phosphorhaltigen Sand. Der kam dann auf die Felder neben das Staßfurter Salz. Jetzt fehlte dem Boden nur noch der Stickstoff...«

In diesem Augenblick ertönte die Glocke, und die Stunde war zu Ende.

»Sehr gut, von Bredow!« unterbrach Doktor Bunsen, »das nächste Mal wird weiter repetiert. Für heute Schluß.«

Es war die letzte Stunde vor einem Schulfeiertag, und die Schüler verließen das Haus mit dem angenehmen Gefühl, einen freien Tag vor sich zu haben.

Der zuletzt Gefragte ging mit seinem Freund Erich Lamberg zusammen die Treppe herunter. »Willst du den freien Tag mit mir zusammen verleben, Erich?« fragte er jetzt, »ich fahre heute nachmittag zu meinem Vater auf das Gut und bin morgen abend wieder zurück.«

»Mit Vergnügen, Bredow!« erwiderte dieser, »in einer Stunde habe ich die Einwilligung meiner Eltern, und in zwei Stunden können wir fahren.«

Noch ehe zwei Stunden verflossen waren, trug die elektrische Schnellbahn die beiden Freunde mit zweihundert Kilometern in der Stunde von Berlin fort.
II.

Ein schöner Sommermorgen scheuchte unsere Freunde Erich Lamberg und Kurt von Bredow aus den Federn. Wenn man nur einen Tag auf einem Landgut zu verleben hat, dann muß mit dem altbewährten Grundsatz, an einem freien Schultag lange zu schlafen, leider gebrochen werden. So waren unsere beiden Helden schon um sechs Uhr munter und hatten sich ein genau ausgedachtes Tagesprogramm zusammengestellt: Bis sechs Uhr dreißig ein guter Kaffee mit Sahne, Landbutter und Landbrot. Dann Marsch an den nahgelegenen See. Dort sieben Uhr fünfundvierzig Besteigung eines Bootes und Bootsfahrt mit ausgiebigem Schwimmbad bis gegen neun Uhr vom Boot aus. Dabei Ausübung der hohen und niederen Jagd auf Frösche, Kaulquappen, Salamander und dergleichen. Neun Uhr Einnahme eines soliden Landfrühstücks mit selbstgeschlachteter Wurst im Boot. Neun Uhr fünfzehn Verlassen des Sees, und nun kommt neun Uhr dreißig der Glanzpunkt des ganzen Vormittags, das Besteigen zweier wirklicher, lebendiger und richtiggehender Pferde und ein Ritt mit dem Inspektor über die Felder des Gutes bis zum Mittagessen um zwei Uhr.

Für den Nachmittag blieben besondere Dispositionen vorbehalten.

Nach diesem Programm handelten unsere Freunde, und die neunte Stunde sah eine Kavalkade von drei Mann den Gutshof verlassen.

»Du, Kurt«, fing Erich nach zehn Minuten an, »wir haben doch in der Schule ein Gedicht von Friedrich Schiller gelernt, in dem allerlei von singenden Schnittern und garbenbindenden Mädchen vorkommt. Wo sind denn die, und was ist denn das dort drüben?« Hier mischte sich der alte Inspektor ein: »Wenn ihr Stadtmenschen die Landwirtschaft aus Schillerschen Gedichten lernen wollt, werdet ihr tüchtig daneben hauen. Mit der Hand wird seit Urgroßvaters Zeiten kein Getreide mehr geschnitten, und Garben bindet man auch nicht mehr von Hand. Das da drüben ist eine Mäh- und Garbenbindemaschine. Wir wollen mal hinüberreiten, aber fallt nicht dazwischen, sonst werdet ihr mitgemäht und mitgebunden.«

Unsere Freunde ritten querfeldein auf den Gegenstand ihres Interesses zu. Da kroch etwas großes Schwarzes behende durch das wogende Ährenfeld. Es sog die nickenden Halme gewissermaßen in sich ein. Hinter ihm aber waren die stehenden Ähren verschwunden. Man sah nur kurzgeschnittene Stoppeln, und in gleichen Abständen legte die Maschine eine sauber gebundene Garbe neben die andere.

»Das ist unsere Mähmaschine«, sagte der alte Inspektor. »Schon im neunzehnten Jahrhundert haben sie etwas Ähnliches versucht, aber es war auch darnach. Die Maschine, die ihr hier seht, wird von einem hundertpferdigen Spiritusmotor mit sechzehn Zylindern getrieben und mäht auf einmal eine Bahn von zehn Meter Breite in die Felder. Dabei schreitet sie in der Sekunde fünf Meter vorwärts. Den Motor hört ihr nicht arbeiten. Geräuschlos und geruchlos tut er seine Pflicht, was man in früheren Jahren auch gerade nicht behaupten konnte. An der Vorderseite der Maschine seht ihr zwanzig Messerkreuze. Sie laufen mit hundert Umdrehungen in der Sekunde und schneiden die Halme ab, ohne sie umzuwerfen. Noch bevor sich der geschnittene Halm darauf besinnen kann, daß er abgeschnitten ist und von Rechts wegen auf die Erde zu fallen hat, fassen diese Arme hier ein ganzes Bündel davon, drücken es zusammen und schaffen es nach hinten. Hier in der Mitte seht ihr einen sehr interessanten Teil der Maschine. Hier schlingt sie einen kräftigen Bindfaden um das Halmbündel und knotet einen richtiggehenden Schifferknoten hinein. Hier hinten legt sie die Garben auf das Feld. Aber nun muß die Maschine weiter, denn dort kommt der Sammelwagen.«

Alsbald begann die Maschine wieder zu laufen und zog ihre Bahnen weiter durch das Getreide. Hinter ihr her rollte ein kräftiger Ackerwagen seines Weges, ebenfalls durch einen kräftigen Spiritusmotor getrieben, ebenso schnell und ebenso geräuschlos wie die Mähmaschine. Mit einer Art Rechenrad nahm er Garbe um Garbe auf und warf sie in den Wagenkasten. »Solcher Wagen gehören zehn Stück zu jeder Mähmaschine«, fuhr der Inspektor fort, »sobald einer voll ist, fährt er mit dreißig Kilometer in der Stunde nach der Scheune und schiebt dort seine Ladung, sofort richtig gestaut, in den Scheunenraum.

Das Feld ist jetzt frei, wie ihr seht, und morgen kommt bereits die Pflüge- und Düngemaschine darauf. Wir wollen nach einer anderen Stelle reiten, die gestern gemäht wurde und heute unter dem Pflug liegt.«

»Das wird ja beinahe eine Fortsetzung der Schulstunden von gestern«, meinte Kurt, »wenn die Sache so weiter geht, müssen wir bei Doktor Bunsen die Note ›recht gut‹ bekommen!«

Wieder mußten die Pferde traben, und bald war das Ziel erreicht. Die Maschine, welche hier über die Fluren zog, war wesentlich größer als die eben besichtigte Mähmaschine. Sie trug in der Mitte einen gewaltigen Kasten. In ihm befanden sich, nach der Erklärung des Inspektors, die Düngestoffe. Staßfurter Salz für den Ersatz von Kalium und Natrium, Thomasschlacke für den Ersatz der Phosphate und Kalkstickstoff oder, chemisch gesprochen, Calciumdicyanamid für den Ersatz der Stickstoffverbindungen, die die vorige Ernte dem Boden entzogen hatte. Je nach der Beschaffenheit des Ackers, je nach der letzten Ernte und je nach der kommenden wurden diese Stoffe in verschiedene Verhältnisse gemischt und mehr oder weniger reichlich beim, Pflügen gegeben. Der Motor, welcher diese Maschine trieb, hatte nicht hundert, sondern fünfhundert Pferdestärken. Seine Pflugscharen standen an der Vorderseite. Sie schnitten den Acker bis zu einer Tiefe von fünfzig Zentimeter auf und nahmen ihn richtig in sich hinein. Im Innern der Maschine wurden aber die gewendeten Schollen durch rotierende Messer weiter zerschnitten und bei dieser Gelegenheit ganz gründlich mit den genannten Düngestoffen verarbeitet und verquirlt. Hinter sich ließ die Maschine einen Ackerboden, der wieder mit Düngestoffen angereichert und bis zur Tiefe eines halben Meters gründlich umgegraben und gut gelüftet war.

»Wir nehmen unseren Acker anders vor als unser Urgroßvater«, sagte der Inspektor, »aber dafür erzielen wir auch den fünfzigfachen Betrag des Saatkornes, und das soll doch seit Pharaos Zeiten bis zum zwanzigsten Jahrhundert nicht vorgekommen sein.

Da ihr nun aber einmal dabei seid«, meinte der Inspektor weiter, »so könnt ihr auch gleich noch auf ein anderes Feld mitkommen, auf dem die Sämaschinen bereits in Tätigkeit getreten sind. Dann habt ihr alles gesehen, was den Fruchtbau angeht: das Pflügen und Düngen, das Säen, das Mähen und die Fahrt in die Scheunen.« Wieder ging der Ritt weiter zu anderen Feldern, auf denen eine leichte Maschine schnell dahinfuhr. Hier genügte ein kleiner Motor von zwanzig Pferdestärken, um das Ganze mit der Geschwindigkeit eines scharf trabenden Pferdes vorwärts zu bringen. Aus einigen zwanzig Röhren rieselte das Saatkorn auf die lose Ackerkrume. Gleichzeitig arbeiteten aber kleine Schaufelwerke hinter diesen Rieselrohren und brachten das Saatgut in gleichmäßiger Verteilung in der Oberfläche der Ackerkrume unter.

»Das ist eine Körnersämaschine«, sagte der Inspektor. »Nun haben wir aber auch noch Steckmaschinen, welche Kartoffeln stecken und welche Rüben umstecken. Wir haben ferner Sämaschinen für die Hülsenfrüchte und wir haben endlich Rübenziehmaschinen, welche die reifen Rüben aus dem Acker ziehen, ohne sie zu beschädigen. Das Schönste aber sind unsere Jätmaschinen, welche die keimenden Äcker vom Unkraut befreien, ohne den Nutzpflanzen zu nahe zu treten. An solcher Maschine hat man sich das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch den Kopf zerbrochen. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist es einem genialen Erfinder endlich gelungen, die schwierige Aufgabe zu lösen.«

»Jetzt aber genug von diesen Maschinen!« rief Erich. »Ich dachte an einen landwirtschaftlichen Betrieb! Hier ist es ja nicht anders wie in einer Fabrik. Maschinen und wieder Maschinen. Die Schnitter haben wir uns schon abgewöhnt, nun ist auch der poetische Sämann genommen, und was sollen wir jetzt vom alten Cinna denken, der als siegreicher Feldherr bescheiden auf seinen Acker zurückkehrte und wieder hinter seinem Pflug ging.«

»Jedes zu seiner Zeit«, sagte der Inspektor. »Die alten Römer haben ihr Getreide anders gebaut als die Zeitgenossen eines Schiller, Goethe und Bismarck. Wir bauen es wieder anders und ich glaube, wir werden es bald noch ganz anders bestellen. Ich alter Mann werde die Dinge wohl nicht mehr mitmachen, aber ihr werdet es noch erleben. Den Anfang haben wir hier schon im Spiritus- und Zuckerwald!« In der Tat langten die Reiter jetzt in einem schönen schattigen Wald an.

»Nanu?« gab Erich auf gut berlinisch seinem Erstaunen Ausdruck. »Das sind doch hier ganz kommune Fichten und Kiefern, aus denen man allenfalls Streichhölzer machen kann. Wo ist denn der Spiritus und der Zucker?«

»Der wird in unserer Fabrik daraus gemacht«, erwiderte der Inspektor. »Dort schleifen wir die Stämme. Aus dem geschliffenen Holzstoff gewinnen wir durch eine Natronbehandlung die reine Zellulose. Wenn wir einen Pferde- oder Rindermagen hätten, wäre das Problem der künstlichen Ernährung damit bereits gelöst, denn diese Mägen sind bekanntlich imstande, Zellulose ohne weiteres zu verdauen.«

»Na, den könnten wir uns ja schließlich durch den berühmten Chirurgen, unseren Onkel Doktor Bail, einsetzen lassen!« warf Kurt dazwischen.

»Mach keine faulen Witze«, verwies ihn Erich, und der Inspektor fuhr fort: »Aus der reinen Zellulose machen wir allerlei. Einen großen Teil verkaufen wir an andere Fabriken, die daraus künstliche Seide, Zelluloidwaren und endlich Sprengstoffe herstellen. Einen anderen Teil verarbeiten wir aber bei uns auf Zucker und Spiritus. Wir benutzen dabei Verfahren, die bereits im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt waren und im allgemeinen mit einer Aufschließung der Zellulose durch Salzsäure beginnen. Ich will euch mit den Einzelheiten den Tag nicht verderben. Das Resultat ist jedenfalls ein guter Spiritus und ein ebenso guter Zucker, den ihr beispielsweise heute morgen zu eurem Kaffee bekommen habt und den ihr heute mittag wieder auf der Tafel finden werdet. Jetzt aber wollen wir nach Hause reiten; es wird Essenszeit.«

»Aber wie soll das mit der Nahrungserzeugung anders werden?« nahm Erich eine frühere Bemerkung des Inspektors wieder auf.

»Der Weg ist klar erkennbar«, erwiderte dieser. »Zucker und Spiritus machen wir jetzt schon aus dem Holz. Die chemischen Fabriken stellen aber den Spiritus auch bereits direkt aus seinen Grundstoffen, das heißt aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff her. Bereits heute ist dieser Spiritus ebenso billig wie unser Holzspiritus, vom Kartoffelspiritus, dessen Fabrikation man vor fünfzig Jahren noch betrieb, gar nicht zu reden. Während uns hier der Nutzen des Spirituswaldes allmählich abgegraben wird, sind unsere Chemiker auf der anderen Seite dabei, die Zellulose direkt und auf billigem Wege in Stärkemehl zu verwandeln. Gelingt ihnen das, so ist es mit dem Bau von Kartoffeln ziemlich sicher vorbei; und vielleicht geht es dann auf diesem Wege überhaupt weiter.«

»Das wäre die Stärke«, rief Erich, der mit Interesse zugehört hatte, »damit scheidet die Kartoffel aus, aber noch bleibt das Getreide, bleibt Weizen und Roggen, Hafer und Gerste, die außer dem Stärkemehl die Kleberstoffe, das heißt Eiweiße in Menge enthalten. Es bleiben Fleisch und Fisch, deren Zusammensetzung eine so komplizierte ist, daß sie allen Anstrengungen der Chemiker spotten dürften.«

»Nicht für immer«, murmelte der alte Inspektor, »wer lebt, wird sehen!«
III.

Unsere Freunde waren wieder zur täglichen Arbeit der Schule zurückgekehrt. Ganz ohne Folgen war ihr Ausflug aber nicht geblieben. Erich, der bereits früher für die exakten Naturwissenschaften großes Interesse gezeigt hatte, legte sich seit der Zeit besonders auf die Chemie, so daß die Sache auch zuletzt dem Doktor Bunsen auffiel.

»Jetzt oder nie!« dachte Erich, als Doktor Bunsen ihn einmal deshalb fragte, und teilte ihm sein großes Interesse an der künstlichen Zelluloseherstellung mit.

»Also das war des Pudels Kern!« unterbrach ihn Doktor Bunsen lachend. »Ich glaube nicht, mein lieber Freund, daß Sie dabei mit einfachen Mischungen zum Ziele kommen werden. Alkohol und Zucker, das mag allenfalls gehen. Das haben unsere Urgroßväter schon 1906 gekonnt, aber Stärke, das ist ganz etwas anderes. Sie wissen doch, daß die Stärke keine gleichartige homogene Masse ist, sondern daß sie aus einzelnen Körnern, den Stärkekörnern besteht, welche gewissermaßen organische Kristalle darstellen. Wir befinden uns bei der Stärke schon hoch in der organischen Natur. Vielleicht nicht allzuweit von jenem Punkt, an welchem der organische Stoff den ersten schwachen Versuch unternimmt, Einzelindividuen, organische Kristalle, zu bilden, von denen der Weg dann in geschlossener Reihe zum ersten Lebewesen, zur organischen Zelle führt. Sie erinnern sich aus dem Unterricht vielleicht jenes bekannten Versuches mit dem Paraazooxzimtsäureäthyläther, welcher in einer Verbindung mit Monobrominaphthalin Kristalle bildet, welche bereits Bewegungen zeigen, die denen der einfachsten Lebewesen, der einzelligen Bakterien nicht unähnlich sind.«

»Ich erinnere mich wohl, Herr Doktor«, sagte Erich, »als wir damals in Ihrem Projektionsapparat diese Kristalle wimmeln und kriechen sahen, dachten wir alle an den alten Goethe und an den gelehrten Wagner, der einen Homunkulus in der Retorte baut.«

»Etwas Ähnliches«, fuhr Doktor Bunsen fort, »muß auch bei der Stärke geschehen, und weil Sie sich für die Sache interessieren, will ich Ihnen heute nachmittag meine eigenen Versuche auf diesem Gebiet zeigen.«

Am Nachmittag suchte Erich Doktor Bunsen in seiner Privatwohnung auf. »Es ist nett, daß Sie pünktlich kommen«, begrüßte ihn dieser. »Ich habe gerade einen Versuch vorbereitet, und in einem halben Stündchen können wir den ganzen Vorgang durchmachen. Ich habe hier«, fuhr er fort, »etwas von jener reinen Zellulose, die Ihnen sorgenvolle Stunden bereitet hat. Die Zellulose will ich hier mit zwei Flüssigkeiten mischen, deren Zusammensetzung vorläufig mein Geheimnis bleibt. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß es weder Salzsäure, noch die bei Ihnen so beliebte Salpetersäure ist. Um nun die folgenden Vorgänge zu erklären, will ich die Lösung zwischen zwei Uhrgläser stellen und in meinen großen Projektionsapparat schieben, damit wir die Dinge auf dem weißen Schirm stark vergrößert beobachten können.« Mit diesen Worten schob Doktor Bunsen das gefüllte Glas in den Apparat, und zischend flammte die Bogenlampe auf. Auf dem Schirm sah man vorläufig nur den kreisförmigen Rand des Uhrglases. Durch die Flüssigkeit gingen die Lichtstrahlen unbehindert durch. »Sie wissen«, fuhr Doktor Bunsen fort, »daß Zellulose und Stärke genau dieselbe prozentuale Zusammensetzung haben. Ihre kleinsten physikalischen Teilchen, ihre Moleküle, sind aus denselben Bausteinen, aus denselben Atomen aufgebaut. Ebenso besteht ja auch noch das Zuckermolekül aus den gleichen Atomen. Unsere Aufgabe ist es also, nicht neue Stoffe in die Moleküle einzuführen, sondern nur die vorhandenen Atome zu neuen Molekülen umzugruppieren. Dazu sollen uns Elektrizität und Magnetismus helfen.« Mit diesen Worten schob Doktor Bunsen einen kräftigen Hufeisenelektromagneten an den Apparat und legte dessen beide Pole auf zwei gegenüberliegende Stellen des Uhrglases. »Wenn ich jetzt den Elektromagneten an das Stromnetz schließe, ihn also errege, so befinden sich die Zellulosemoleküle in einem magnetischen Kraftfeld, welches bestrebt ist, sie in einer bestimmten Richtung und Lage festzuhalten.« Dabei schaltete er den Elektromagneten an, und im selben Augenblick lief momentan ein dunkles Wellenspiel über das Bild auf der weißen Fläche des Schirmes.

»Jetzt sind die Zellulosemoleküle gewissermaßen zur Verarbeitung festgeklemmt, wie man ein Stück Eisen vor dem Befeilen in den Schraubstock spannt«, erläuterte er dabei. »Nun heißt es, sie vorsichtig anzustoßen, damit sie sich in der gewünschten Weise umlagern. Dazu benutze ich einen pulsierenden Gleichstrom. In die Uhrgläser sind bereits Platinelektroden eingeschmolzen. Ich schließe sie jetzt an meine Stromquelle und lasse einen ganz schwachen, pulsierenden Strom hindurchgehen.« Bei diesen Worten schaltete er das Besprochene ein, und alsbald begann sich das Bild auf dem weißen Schirm zu verändern. Das Aussehen der beiden Flächen begann eine körnige Struktur zu zeigen. Es traten helle und dunkle Stellen auf, und immer deutlicher wurden einzelne Körnchen erkennbar. Diese Körnchen aber blieben nicht ruhig liegen, wo sie entstanden, sondern wandelten aufeinander zu und bildeten größere Klümpchen.

»Wir sehen jetzt«, erläuterte Doktor Bunsen, »wie die Stärkemoleküle sich zu richtigen Stärkekörnern vereinigen, wie wir sie in der Stärke aller unserer Nutzfrüchte finden, mag es sich nun um Kartoffel- oder Roggenmehl, um Reisstärke, um Sago oder Pfeilwurzel handeln.« Während Doktor Bunsen erklärte, wuchsen die Körner immer weiter an und nahmen einen immer größeren Raum ein. »Wir wollen jetzt ein Viertelstündchen zum Kaffeetrinken benutzen und dann sehen, was aus der Sache geworden ist«, meinte der Doktor und schaltete die elektrische Lampe aus. »Der Magnet und der pulsierende Strom werden in der Zwischenzeit arbeiten.«

Als Lehrer und Schüler nach einer Viertelstunde wieder an den Apparat traten und die Lampe aufleuchten ließen, da war der ganze Schirm nur noch sehr matt erleuchtet. »Unser Glas ist voll Stärke«, sagte der Doktor, »jetzt können wir den Versuch abbrechen.« Mit diesen Worten schaltete er alle Ströme ab und zog das Glas aus dem Apparat. Es zeigte sich mit einer weißen breiigen Masse gefüllt. Doktor Bunsen spülte die Masse mit reinem Wasser mehrmals aus und sammelte den Niederschlag auf einem reinen Glas. »Dies ist reine Stärke«, sagte er, »bereits diese Lupe wird Ihnen die Stärkekörner zeigen.« In der Tat sah man mit bewaffnetem Auge die weißglänzenden gequollenen Stärkekörner in Gruppen und häufigem Beieinanderliegen. »Mehl aus Holz«, sagte Doktor Bunsen. »Nach dem Spiritus und Zucker aus Holz der erste große Fortschritt, und ich darf wohl annehmen, daß dies Verfahren auch im großen durchführbar ist. Meine Lösungsflüssigkeit ist außerordentlich billig und der Stromverbrauch ist auch nur gering.«

Mit geröteten Wangen und glänzenden Augen verließ Erich seinen Lehrer. Zum Andenken an diesen Besuch nahm er in einem Reagenzglas die Stärke mit, welche dort vor seinen Augen aus der Zellulose entstanden war. Am selben Abend traf er seinen Freund Kurt, und die Nachtpost nahm einen Brief an dessen Vater mit, in welchem das Bunsensche Verfahren zur Stärkegewinnung nach Erichs Beobachtungen geschildert wurde und welchem eine Probe der hergestellten Stärke beigeschlossen war. »Wenn die Stärke schon künstlich hergestellt wird«, meinte Kurt, »so kann mein Vater auch der erste sein, der sie fabriziert. Zellulose haben wir genug und von Spiritus und Zucker allein kann der Landwirt bei der heutigen Konkurrenz ohnedies nicht leben.«

Zwei Jahre sind seit dem letzten Ereignis vergangen. Unsere beiden Freunde sitzen bereits in der Sekunda. Auch Doktor Bunsen hat mit der Tertia nichts mehr zu tun. Seine epochemachende wirtschaftliche Herstellung der Stärke aus der Zellulose hat ihm eine Professur an der Universität eingebracht.

Heute ist wieder ein für unsere Freunde freier Schultag, und wieder sind sie auf dem Bredowschen Gut zu Besuch. An der Stelle, wo früher der Schafstall stand (den Stall für die Mähmaschine, meint Kurt, der ungern einen faulen Witz unterdrückt), erhebt sich eine schmucke neue Fabrik in rotem Ziegelbau. Der alte Inspektor ist noch da, aber er sieht bereits die Zeit voraus, da hier alles Fabrik und Maschine sein wird. Gegenwärtig verkauft das Gut nur noch wenig Zellulose nach außerhalb. Die überwiegende Menge geht in die Stärkefabrik, in welcher das Bunsensche Verfahren im großen betrieben wird. Wir betreten mit unseren Freunden den Raum. »Das hier ist nun der Mischkessel«, beginnt der alte Inspektor seinen Vortrag. »Hier wird die Zellulose mit der Bunsenschen Flüssigkeit angerührt. Ein mechanisches Rührwerk sorgt dafür, daß sich alles löst. In einer halben Stunde sind fünfzig Zentner Zellulose in diesem Riesenbottich in Lösung gegangen. Diese Pumpe hier hebt die Flüssigkeit in den Umformerkessel, in welchem sie durch Elektrizität in Stärke verwandelt wird. Der Umformerkessel ist lang und schmal, damit die Magneten durch die ganze Masse wirken. In ebenfalls einer halben Stunde vollzieht sich hier die Umwandlung der Zelluloselösung in Stärke. Der Unformerkessel arbeitet also mit dem Maschinenkessel in passender Weise zusammen. Nach einer halben Stunde holt ein Schneidwerk die fertige Stärke heraus und bringt sie wieder in die Zentrifugen. Die Bunsensche Flüssigkeit wird abgeschleudert und wieder von neuem für die Auflösung frischer Zellulose benutzt. Die Stärke wird mit frischem Wasser zweimal durchgespült und dann bei mäßiger Temperatur getrocknet. Nun wollen wir auf unseren Speicher gehen.« In den oberen Räumen der Fabrik standen Tausende von Säcken, welche die klare weiße Stärke enthielten. »Wir fabrizieren in der Stunde hundert Zentner Stärke«, erläuterte der Inspektor. »Da wir in zwei Schichten täglich sechzehn Stunden arbeiten, so haben wir täglich sechzehnhundert Zentner fertiger Stärke auf das Lager zu nehmen.«

»Gibt es denn so viel Bäume?« unterbrach Erich, »dann müßt ihr ja jedes Jahr einen großen Wald niederschlagen, um die nötige Zellulose zu gewinnen.«

»Unsere Bäume reichen in der Tat nicht mehr«, sagte der Inspektor, »aber wir haben einen Teil unserer Felder für den Anbau der indischen Zellulosepflanze unter den Pflug genommen. Es ist dies ein mächtiges krautartiges Gewächs, welches bei guter Düngung unglaublich wuchert und im zweiten Jahr bereits zwei Meter hohe holzige Stauden liefert, welche bis in die feinen Stengel hinein aus ziemlich reiner Zellulose bestehen. Die Blätter geben ein gutes Viehfutter, die Stämme kommen sofort in die Zellulosefabrik. Durch geeignete Züchtung haben wir Pflanzen erlangt, welche bereits im zweiten Jahr armdicke Stämme haben und sehr große Ausbeute ergeben. Außerdem verarbeiten wir unser gesamtes Getreidestroh auf Zellulose. Ferner sind Vorbereitungen im Gange, um auch unser großes Moor für die Gewinnung reiner Zellulose nutzbar zu machen. Dann können wir auch aus dem Torf Stärke gewinnen.«

Unsere Freunde verließen das Gut diesmal nicht ohne den üblichen Spazierritt zu machen, und in der Tat zeigte sich eine gewisse Veränderung im Aussehen der Kulturen. Große Flächen, die vor zwei Jahren Getreide getragen hatten, machten von weitem den Eindruck niedriger Wälder. Es waren jene Flächen, die dem Anbau der Zellulosepflanze dienten. »Das ist nur ein Übergang«, meinte der alte Inspektor, bevor sie sich verabschiedeten, »ich glaube, der Tag ist nicht mehr fern, an dem sie auch die Stärke aus Kohle und Wasser direkt zusammensetzen.« Wiederum waren fünf Jahre verstrichen. Unsere beiden Freunde haben mit guten Zeugnissen die Schule verlassen und ihren Lebensberuf gewählt. Kurt ist auf dem väterlichen Gut als Eleve eingetreten, um vor dem landwirtschaftlichen Hochschulstudium ein Jahr lang den praktischen Betrieb kennenzulernen. Erich hat sofort das Studium der Chemie ergriffen und ist Assistent seines alten Lehrers, des Professor Bunsen, geworden. Eine Dezembernacht liegt über der Stadt, und über den Häusern verlischt ein Licht nach dem anderen. Aus dem Universitätslaboratorium dringt dagegen noch immer der Schimmer brennender Lampen. Hier sitzen Lehrer und Schüler über ihre Arbeit gebeugt und vergessen Raum und Zeit. Hier brodelt es in den Retorten, hier rauscht und zischt es aus Drähten und Röhren. Es ist die richtige Hexenküche der mittelalterlichen Alchimisten, die im zwanzigsten Jahrhundert wieder auflebt. Ein eigenartiger Geruch erfüllt den Raum. Das riecht nicht nach scharfen Säuren und Salzen, wie man es sonst in Laboratorien gewohnt ist. Es erinnert vielmehr an den Duft grünender Wälder und blühender Felder. In einer Retorte schimmert eine grüne Flüssigkeit, in welcher allerlei Röhren münden. Davor steht ein Glasballon, einer Röntgenröhre vergleichbar. Ein elektrisches Induktorium schnurrt, und unter seiner Arbeit sendet die Glasröhre ganz neuartige Ätherwellen aus. Eine elektrische Lampe von eigenartiger, noch nie gesehener Konstruktion läßt blendendhelles Sonnenlicht in die grüne Lösung fallen. Brodelnd und blasenwerfend strömt gasförmige Kohlensäure aus einem Rohr in die Lösung. Die Blasen steigen jedoch nicht bis zur Oberfläche, sondern werden von der Flüssigkeit gewissermaßen verschluckt. Ein elektrischer Gleichstrom durchfließt in regelmäßigen Pulsationen die Retorte und ebenfalls absatzweise strömt klares Wasser in dieselbe hinein. Aus einem dritten Rohr entweicht ein farbloses Gas aus der Flüssigkeit. Jetzt ergreift Doktor Bunsen ein brennendes Streichholz und hält es über dies Abzugsrohr. Augenblicklich flammt es in blendendhellem Glanz wie elektrisches Licht auf und verbrennt im Moment. »Die Reaktion ist im Gange«, murmelt der Professor, während er den Holzrest zurückzieht. »Es entweicht reiner Sauerstoff. Die Anordnung scheint zu wirken. Kohlensäure und reines Wasser bringen wir in Gegenwart des Chlorophylls, des natürlichen Blattgrüns, zusammen. Bei unseren Urgroßvätern hätte das allenfalls Sodawasser gegeben. Hier unter der Einwirkung unserer neuen Strahlen, unter der Einwirkung einer intensiven Beleuchtung und unter dem Einfluß schwacher pulsierender Gleichströme spaltet sich die Kohlensäure durch die Kontaktwirkung des Chlorophylls in Kohlenstoff und Sauerstoff. Der Kohlenstoff aber geht im Augenblick seiner Freiwerdung mit dem Wasser eine neue Verbindung ein.«

»Ich denke, es muß ein Kohlenhydrat entstehen! Es muß Stärke werden«, rief Erich begeistert aus. »Ich hoffe, wir sehen heute richtige Stärkekörner in unserer Retorte wachsen.«

»Nicht so voreilig, mein lieber Freund«, unterbrach ihn der Professor. »Sie wissen, daß wir nun schon seit zwei Monaten mit der Anordnung arbeiten und daß die Ergebnisse bisher zu wünschen übrig ließen. Sie werden sich erinnern, daß wir zuerst nur einfachen Alkohol, nur einfache Äther und Ester aus der Retorte holen konnten, während teils Kohlensäure, teils Kohlenoxydgas aus dem Abzug vorströmte. Sie wissen ja auch, daß wir erst vor drei Tagen reine Zellulose in der Retorte fanden und darauf die Strahlungs- und Beleuchtungsverhältnisse, die Strompulsationen aufs neue einstellten. Vielleicht haben wir das Richtige getroffen. Vielleicht haben wir Glück und lassen heute Stärke im Glas wachsen. Aber es ist ein ungewisses Spiel mit hohem Einsatz. Vielleicht müssen wir noch Jahre suchen, bevor wir das Richtige finden, bevor wir der Natur ihr Geheimnis abringen. Vielleicht kommen wir auf Monate hindurch von der Zellulose nicht los.«

»Es mag sein, aber warum so schwarz in die Zukunft blicken«, unterbrach ihn Erich, »wir können doch durch einen Glücksfall schon heute dazu kommen.«

Unter solchen Reden verstrich Stunde um Stunde und immer träger wurden die Bewegungen in der Retorte, immer breiiger wurde die ursprüngliche Flüssigkeit. Eine Uhr holte am Kirchturm zum Schlagen aus und verkündete die zwölfte Stunde. »Wir wollen den Versuch abbrechen und unsere Retorte auswaschen«, sagte jetzt der Professor und begann die erzeugenden Ströme einen nach dem anderen abzuschalten. Sie schütteten den Inhalt der Retorte auf das Fließpapier eines Trichters und spülten die grüne Erzeugungsflüssigkeit aus. In Kürze lag ein schneeig schimmerndes Pulver im Trichter. Ein Tropfen Reaktionsflüssigkeit genügte, um die typische Stärkereaktion hervorzurufen. »Es ist reine Pflanzenstärke«, rief Erich, »wir haben gewonnen. In der Retorte ist Stärke entstanden.«

Nach einem Viertelstündchen saßen unsere Freunde in der Wohnung des Professors bei einem Rheinwein, der mit Recht eine gute Gabe Gottes genannt werden dürfte.

»Wir wollen hoffen«, begann der Professor, »daß die Chemie sich so bald nicht an diese reinen Genußmittel, an diese köstlichen Naturweine macht. Das erste Glas soll zunächst auf die künstliche Stärke, auf die Stärke aus Kohle und Wasser getrunken werden.« Mit diesen Worten erhob er sein Glas und leerte es bis auf den Grund.

»Wir haben doch gesiegt«, begann Erich. »Was in der Retorte ging, das wird auch in der Fabrik gehen. Ich sehe eine Zeit kommen, da sich neben unseren Kohlenbergwerken gewaltige Stärkefabriken erheben. Zu dieser Zeit wird man einen Teil der geförderten Kohle sofort verbrennen, um Elektrizität zu gewinnen. Die Kohlensäure, welche bei dieser Verbrennung naturnotwendig entsteht, wird aber nicht mehr nutzlos aus den Schornsteinen der Maschinenhäuser in die freie Luft entweichen. Man wird sie auffangen, von allen fremden Beimischungen säubern und den größten Teil davon sofort zur Herstellung von künstlichem Stärkemehl benutzen. So wird eine Zeit kommen, in welcher auch der Ärmste genügend Brot hat. Die Wissenschaft wird alle speisen, die heute noch an der Tafel des Lebens hungrig bleiben müssen.«
VI.

Die Erfindung von Professor Bunsen erregte allgemeines Aufsehen. Man hatte seine Verdienste um die Verwandlung des Zellulosestoffes in Stärke nicht vergessen, und der Staat stellte ihm eine große Summe zur Verfügung, um Versuche in größerem Maßstab zu unternehmen. Zuerst schien die Sache ziemlich aussichtslos, denn die Kunststärke war ungefähr dreimal so teuer, wie die natürlich gewachsene. Als die Versuche so weit gediehen waren, gelang es jedoch Erich, das Verfahren sehr viel günstiger zu gestalten. Bei der Darstellung der Stärke entwickelte sich ja reiner Sauerstoff. Auch dieser wurde jetzt sorgfältig aufgefangen. Dann verbrannte man die Kohle im reinen Sauerstoff zu Kohlensäure. Dabei entstand eine blendendhelle Weißglut, welche unmittelbar zur notwendigen Beleuchtung der Apparate benutzt wurde. Ferner war das Erzeugnis dieser Verbrennung bereits eine chemisch reine Kohlensäure. Endlich gelang es, die geplante Verbrennungswärme mit ganz geringfügigen Verlusten mit Hilfe thermoelektrischer Säulen in Elektrizität umzusetzen. Alle diese Verbesserungen zusammen ergaben staunenswerte Effekte. Man kam in die Lage, mit zehn Kilogramm verbrannter Kohle acht Kilogramm Stärke zu erzeugen. Als die Unternehmungen so weit gediehen waren, fanden sich schnell Kapitalisten, welche Mehlfabriken in großem Maßstab einrichteten und Lizenzen auf die Bunsenschen Patente nahmen. Professor Bunsen selbst war es, der immer wieder zur Mäßigung rief und empfahl, den Anbau von Nutzpflanzen nicht über der neuen Erfindung zu vernachlässigen.

Trotzdem zog die Landwirtschaft ihre Lehren aus der Erfindung. Der Anbau von eigentlichen Stärkepflanzen, insbesondere von Kartoffeln und Halmfrüchten, ging stark zurück. Dafür blieb dem landwirtschaftlichen Betrieb die Kultur von eiweißhaltigen Pflanzen, also besonders von Hülsenfrüchten, und es blieb ihr die Versorgung der Menschheit mit Fleisch, mit den Eiweißstoffen des tierischen Körpers. Wiederum nahm der Acker ein anderes Bild an. Der Sorge um die Stärke ledig, warfen sich viele Landwirte fast ausschließlich auf die Viehzucht. Wo man früher Kornfelder gesehen hatte, tummelten sich auf grüner Weide unübersehbare Rinderherden. So groß wurde der Viehbestand, daß die natürliche Weide ihn nicht mehr zu ernähren vermochte und daß die Ernährung dieser Herden stellenweise durch das künstliche Mehl erfolgen mußte. Der Reichtum des Landes wurde durch die Erfindung nicht wenig gehoben. Es bot sich ja Nahrung für die doppelte und dreifache Anzahl von Menschen. Wie es in solchen Fällen stets zu gehen pflegt, herrschte eine Zeit der Hochkonjunktur. Alle Gewerbe und Zünfte blühten und die Volkszahl stieg stärker, als lange Zeit zuvor.

Die Jahre gingen darüber ins Land. Während Professor Bunsen sich ganz der Ausgestaltung seiner Fabriken widmete, setzte Erich seine Studien fort und stand jetzt vor seiner Abschlußprüfung, welche ihm den Titel eines Doktor der Chemie bringen sollte. Bevor er sich dem Examen unterzog, sollte noch einmal ein freier Tag die alten Freunde auf dem Bredowschen Gut vereinigen. Auch dort hatte die neue Zeit einschneidende Veränderungen bewirkt. Die kunstvollen Ackermaschinen, der Stolz und die Freude des alten Inspektors, waren verschwunden und dieser selbst lebte als Pensionär auf dem Gut. Er begrüßte den Professor Bunsen sowie Erich und Kurt mit wehmütigem Lächeln. »Meine Maschinen und ich, wir sind nun glücklich pensioniert«, begann er. »Jetzt macht ihr die Stärke und das Mehl ja glücklich aus Steinkohlen und Wasser. Vielleicht gelingt es euch auch nächstens mit dem Beefsteak. Dann können wir unsere Rinderherden an den Zirkus verkaufen und uns ganz zur Ruhe setzen. Ich will aber mit dem Kunstzeug nichts zu tun haben. Solange ich lebe, will ich natürliche Stärke essen und wenn ich sie mir auf meinem kleinen Acker selber bauen soll. Ich meine, aus eurem chemischen Gebräu schmeckt man immer noch die Steinkohle heraus. Die gehört doch eigentlich in das schöne weiße Mehl gar nicht herein, die alte schwarze Kohle.«

»Sie irren sich«, unterbrach ihn Professor Bunsen. »Die schwarze Kohle steckt auch in Ihrem natürlichen Mehl. Was wetten Sie, daß ich sie Ihnen zeigen kann.«

»Das möchte ich doch sehen«, unterbrach ihn der alte Inspektor. »Wetten will ich nicht, denn ihr Giftmischer kriegt schließlich alles fertig, warum also auch nicht das.«

»Die Sache ist sehr einfach«, sagte der Professor, »ich habe hier ein Fläschchen konzentriertester Schwefelsäure in der Tasche. Diese Säure hat, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, ein starkes Bestreben, Wasser gierig an sich zu reißen, wo immer sie es greifen kann. Nun ist, wie Sie wissen, oder wie wir wenigstens behaupten, Stärkemehl nichts anderes als eine Verbindung des Kohlenstoffs mit dem Wasser. Sobald wir nun die Schwefelsäure an das Mehl bringen, wird sie diesem das Wasser begierig entreißen und dann muß ja doch nach unserer Theorie Kohle übrigbleiben.« Bei diesen Worten nahm der Professor einen Löffel voll von dem Mehl, welches der Inspektor ihm bot, streute es in Form eines Häufchens auf den Teller, machte eine Mulde darin und goß etwas von der Schwefelsäure hinein. Im Augenblick begann das Mehl sich zu bräunen, wo es mit der Schwefelsäure Berührung hatte. »Dort wird ihm das Wasser schon knapp«, sagte der Professor und ließ noch einige Säuretropfen darauf fallen. Immer dunkler wurde das Mehl und immer tiefer drang die Färbung ein. Jetzt war eine Portion des Mehles in tiefschwarze Kohle verwandelt worden. »Glauben Sie nun, daß auch in Ihrem Naturmehl Kohle steckt?« fragte der Professor. »Sie können übrigens denselben Versuch mit einem Stück Zucker oder mit einem Stück weißem Holz machen. Alle diese Dinge sind nichts weiter als Verbindungen des Kohlenstoffes mit Wasser, und wenn Sie konzentrierte Schwefelsäure darauf gießen, wird die Kohle freigelegt.«

»Vielleicht machen Sie das Experiment nächstens auch noch mit einem Stück Fleisch«, scherzte der Inspektor.

»Gewiß geht es auch mit Fleisch«, erwiderte der Professor. »Hüten Sie sich ja davor, etwas von der konzentrierten Säure auf Ihre Hand fallen zu lassen. Sie würden sonst zu Ihrem Leidwesen erfahren, daß auch in Ihrem Fleisch Kohle steckt und durch die Säure freigelegt werden kann.«

»Dann will ich schon lieber ein Beefsteak dazu nehmen«, sagte der Inspektor, »was dabei herauskommt, will ich Ihnen ins Laboratorium schicken.«

»Nicht nötig, alter Herr!« unterbrach ihn Erich, »ich habe für meine Doktorarbeit ein Beefsteak von genau tausend Gramm Gewicht in seine einzelnen Elemente zerlegt. Da finden Sie bei mir in einzelnen Retorten sorgfältig verschlossen eine Portion Kohlenstoff, eine Portion Wasser, etwas überschießenden Wasserstoff, eine tüchtige Portion Stickstoff, ein Häufchen Schwefel, ein kleineres Häufchen Phosphor und schließlich etwas metallisches Eisen.«

»Schade um den schönen Happen, der da vermanscht worden ist«, brummte der alte Inspektor.

»Dies Beefsteak fiel als ein loderndes Opfer auf den Altar der Wissenschaft«, belehrte ihn Erich mit neckischem Ernst. »Es war eine sehr heikle Aufgabe, alle die einzelnen Stoffe zu trennen und kein Atom davon zu verlieren. Im übrigen war diese Aufgabe dem Gebiet der analytischen, der auflösenden Chemie entnommen. Eines Tages wird die synthetische, die zusammensetzende Chemie darangehen müssen, aus diesen Grundstoffen ein neues Beefsteak wieder aufzubauen.«

»Pfui, Kuckuck«, rief der alte Inspektor, »Schwefel und Eisen und Phosphor im Beefsteak! Das ist ja eine üble Panscherei.«

»Schwefel und Eisen und Phosphor stecken in jedem natürlichen Beefsteak und in jedem tierischen Körper«, unterbrach ihn Erich. »Ihr selbst, alter Herr, habt von alledem einige Pfunde im Leib und führt Euch mit jedem Beefsteak mehr davon zu. Wenn ich aber mein erstes künstliches Beefsteak fertiggestellt habe, seid Ihr dazu eingeladen.«
VII.

Erich Lamberg war in sein Examen gestiegen und hatte den Doktor der Chemie summa cum laude gemacht. Seine Doktorarbeit hatte sich mit den Eiweißstoffen befaßt, welche auch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts der Chemie noch unüberwindliche Schwierigkeiten boten. Um diese Schwierigkeiten zu würdigen, müssen wir ein klein wenig auf die Besonderheiten der chemischen Struktur eingehen. Es ist ja seit den unvergeßlichen Forschungen des genialen Dalton vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts her bekannt, daß das Gefüge unserer Stoffe nicht bis in die Unendlichkeit gleichartig bleibt. Nehmen wir uns zur Erläuterung unserer Auseinandersetzungen ein Stückchen des bekannten blauen Kupfervitriols, das man ja in jeder Drogerie bekommen kann. Dalton argumentierte nun etwa folgendermaßen: Wenn ich mir ein solches Stück blauen Kupfervitriols vornehme und teile, so wird sich für meine physikalischen Hilfsmittel, beispielsweise für ein Messer oder eine Schere, ja sehr bald eine praktische Grenze finden. Im Geiste kann ich aber immerhin annehmen, daß ich über unendlich feine Messerchen verfüge und daß ich mein blaues Splitterchen unter einem unendlich starken, auf Erden nie existierenden Mikroskop immer weiter und immer weiter teile, zu immer kleineren und immer kleineren Partikelchen der blauen Masse gelange. Diese Annahme ergibt mir also Kupfervitriolteilchen von beliebiger Kleinheit.

Aber, folgerte nun Dalton, diese Annahme ist nicht zulässig. Ich werde bei einer bestimmten Winzigkeit des Kupfervitriolsplitters eine Grenze erreichen, wo meine geistigen Messer nicht mehr schneiden. Ich werde an eine Grenze kommen, wo ich gewissermaßen vor einem Kupfervitriolindividuum stehe, welches sich mit derartigen mechanischen Mitteln nicht mehr teilen läßt.

Nehmen wir zur Erläuterung ein Regiment Soldaten. Durch sein Kommandowort kann der Oberst das Regiment in Bataillonen auseinandermarschieren lassen. Durch sein Kommandowort kann er es in Kompanien und in Züge, ja in Rotten zerlegen. Die Rotte kann er schließlich in einzelne Soldaten teilen. Dann aber findet seine Kommandogewalt ein Ende. Wenn er dem einzelnen Soldaten Schulze befiehlt, auseinanderzugehen, so wird Schulze diesem Befehl nicht nachkommen können. Auch hier steht der Oberst dem einzelnen Individuum gegenüber, welches er mit seinen Mitteln des Kommandowortes, des Dienstbefehles nicht weiter teilen kann.

Aber es gibt Mittel, die stärker sind als der Befehl eines Obersten, zum Beispiel eine krepierende feindliche Granate. Wenn eine solche in den Füsilier Schulze einschlägt, so wird er sofort auseinandergehen. Hier wird ein Bein und dort ein Arm liegen. Hier wird man den Rumpf und dort den Kopf finden.

Dem einzelnen Soldaten des Regimentes entspricht nun im Kupfervitriol jenes kleinste, mit mechanischen Mitteln nicht mehr teilbare Individuum, welches wir ein Molekül nennen. Und auch hier haben wir stärkere Mittel, welche das Molekül ebenso zersprengen wie die Granate den Soldaten. Die Zerteilung des Soldaten ergab nicht mehr gleichartige Sachen, sondern ganz verschiedene Dinge, wie Arme, Beine und dergleichen. Die Soldatenmassen, die der Oberst durch sein Kommandowort teilte, waren immerhin gleichartige Soldaten. Nach dem Granatschuß finden wir plötzlich Trümmerstücke und Fleischfetzen, die kaum noch an einen Soldaten erinnern. Zersprengen wir unser blaues Kupfervitriolmolekül mit Hilfe der starken chemischen Mittel, so ist das Resultat auch ein überraschendes. Man sieht, daß es aus sechs ganz verschiedenen Dingen besteht. Wir finden ein allerkleinstes Teilchen des rotblanken Kupfermetalles, ein allerkleinstes Teilchen des gelben Schwefels und vier Teile eines luftförmigen Gases, des Sauerstoffes. Wie der Soldat sich aus zwei Beinen, zwei Armen, einem Rumpf und einem Kopf zusammensetzt, so besteht das Kupfervitriolmolekül aus vier Sauerstoffatomen, einem Schwefelatom und einem Kupferatom.

Nachdem Daltons Anschauung allgemeine Anerkennung gefunden hatte, gingen die Chemiker des neunzehnten Jahrhunderts zunächst daran, die Zusammensetzung der Moleküle aller Stoffe zu studieren, die Moleküle in ihre Atome zu zerlegen. Es kam eine Blütezeit der analytischen, der auflösenden Chemie.

Nun ist es zweifellos sehr viel leichter, einem Soldaten die Glieder kaputtzuschießen, als sie wieder zu flicken und zu heilen. Ein gleiches erfuhr auch die Chemie des neunzehnten Jahrhunderts, als sie sich der Synthese, der Wiederzusammensetzung der Atome zum Molekül zuwandte. Erstens ist das Wiederzusammensetzen überhaupt nicht so leicht. Nicht jedes abgeschossene Bein heilt so ohne weiteres wieder an. Zweitens aber muß man auch wissen, wo die Glieder im richtigen Molekül, beim richtigen Soldaten gesessen haben. Wenn wir unserem Soldaten zum Beispiel die Arme unten und die Beine oben ansetzen, so kommt ein Individuum heraus, welches zwar auch zwei Beine, zwei Arme, einen Rumpf und einen Kopf hat, aber im ganzen Leben kein richtiger Soldat ist. Derartige Verwechslungen sind aber auch bei den Molekülen möglich.

Deshalb mußte die synthetische Chemie des neunzehnten Jahrhunderts sich genau informieren, wie das Molekül des Körpers konstruiert war, wie die einzelnen Atome im Molekül gruppiert waren, und so entstand die interessante Wissenschaft der Strukturchemie, welche unter Hofmann, Van’t Hoff, Kekulé und anderen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihre Triumphe feierten. Hofmann fand die verschiedenen Lagerungsmöglichkeiten, insbesondere der Kohlenstoffatome, in Reihen oder in Ringen und studierte die Eigenschaften solcher Körper auf das eingehendste. Er untersuchte die reihenförmigen Kohlenstoffe, welche in ihren einfachsten Verbindungen mit Wasserstoff die bekannten Fette, insbesondere die Fettstoffe des Petroleums ergeben, und daher auch wohl aliphatische Reihen genannt werden (vom griechischen Aliphos, das Fett). Er studierte ferner die ringförmigen Kohlenstoffkörper, auch wohl aromatische Kohlenstoffe genannt, die Benzole und Naphthaline und ihre zahlreichen Abkömmlinge. Seine Synthese feierte ihre höchsten Triumphe, als er dem schwarzen Steinkohlenteer die aromatischen Kohlenstoffringe entnahm und durch den Anbau passender Atomgruppen die leuchtende Schar der Anilinfarben schuf.

Die Synthese schritt weiter. Bereits zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts gelang es, den prachtvollen blauen Indigofarbstoff, dessen Molekül sich aus dreißig Atomen kunstvoll in zwei aromatischen Ringen aufbaut, aus deutschem Steinkohlenteer so billig in solchen Massen herzustellen, daß in Indien viele Quadratmeilen fruchtbaren Landes nicht mehr mit der Indigopflanze bebaut, sondern der nützlichen Kornkultur wiedergegeben wurden. Unablässig schritt die synthetische Chemie weiter, und bereits im Jahre 1906 wagte sich der deutsche Chemiker Professor Fischer auf das schwierige Gebiet der Eiweißstoffe. Bereits damals wußte man, daß die Aufgabe enorm schwierig sei. Während das Zucker- und Stärkemolekül nur aus einigen hundertunddreißig Atomen zusammengebaut ist, wußte man, daß die einfachsten Eiweiße ihr Molekül aus wenigstens tausend, wahrscheinlich zweitausend Atomen konstituieren. Man wußte auch aus der analytischen Chemie, daß im Eiweiß im allgemeinen sechzehn Prozent Stickstoff, zweiundfünfzig Prozent Kohlenstoff, sieben Prozent Wasserstoff, dreiundzwanzig Prozent Sauerstoff, zwei Prozent Schwefel und eventuell etwas Eisen und Phosphor enthalten waren. Über die Zusammensetzung dieser Moleküle aber war man völlig im dunkeln und natürlich boten sich bei tausend Atomen tausend Millionen Strukturmöglichkeiten.

Trotzdem war es Fischer bereits 1906 gelungen, Peptine und Peptone herzustellen, das heißt Stoffe, die jedenfalls an sich wieder als größere Bausteine in die Eiweißmoleküle eingesetzt werden mußten. Dann war aber die Eiweißsynthese nicht recht weitergekommen. Insbesondere war man noch weit davon entfernt, die einzelnen Eiweiße des Hühnereies, des Blutes und des Fleisches auf künstlichem Wege naturecht darzustellen. Die Synthese der Eiweißstoffe hatte unseren Freund Erich bereits während seiner Studienzeit sehr beschäftigt und es waren besonders die Eiweißstoffe des Hühnereies, welche er sich für seine Doktorarbeit vorgenommen hatte. Es war ihm in der Tat gelungen, ein einwandfreies Hühnereiweiß zu erzeugen und aufgrund seiner synthetischen Arbeiten eine Strukturformel zu geben, welche den kunstvollen Aufbau des Eiweißmoleküls aus zweitausendachtundvierzig Atomen darstellte.

Nun war das Examen bestanden und im Kreise trauter Freunde beim Becher Wein gefeiert worden. Erich saß wieder allein in seinem Laboratorium. Die nächsten Tage wollte er auf dem Bredowschen Gut mit seinem Freund Kurt zusammen verbringen. Seine Retorte enthielt noch eine stattliche Portion eines chemisch reinen Eiweißes.

»Ich will dem alten Inspektor eine Freude machen«, murmelte er jetzt vor sich hin. »Ich will ihm ein künstliches Hühnerei mitbringen.« Freilich waren ihm die gelben Stoffe des Eidotters noch wenig bekannt. Sein Laboratorium enthielt aber Fettstoffe aller Art. Er hatte im Laufe seiner Forschungen die Nährsalze des Eies sämtlich isoliert und künstlich dargestellt und verfügte endlich über den typischen gelben Farbstoff des Eies, eine Verbindung des Eisens mit dem gewöhnlichen Hühnereiweiß. »Wir müssen ein wenig fälschen«, sprach er lächelnd vor sich hin und begann verschiedene Fette mit etwas reinem Eiweiß und dem gelben Farbstoff zu mischen. Als die Masse gleichmäßig durchgerührt war und völlig dem natürlichen Eigelb glich, füllte er sie in eine Platinkugel und tauchte sie wenige Sekunden in siedendes Wasser. Als er die Platinkugel öffnete, lag das Gelbe in geronnenem Zustand als feste Kugel da. Jetzt nahm er eine größere Platinform von der Gestalt eines Eies, legte die Kugel hinein und goß flüssiges Eiweiß zu, bis die Form gefüllt war. Dann tauchte er sie wiederum in das kochende Wasser und zog in Kürze ein weißes Ei, freilich noch ohne Schale, heraus. »Jetzt noch die Schale«, murmelte er vergnügt vor sich hin und bereitete eine kalkartige Flüssigkeit. Mit einem feinen Haken faßte er das künstliche Ei, tauchte es einige Male in die Flüssigkeit und hob es in die Luft. Sofort erstarrte der kalkhaltige Überzug und es bildete sich eine veritable Eierschale. Es lag ein Ei vor ihm, welches äußerlich so vollkommen einem Hühnerei glich, daß er es jederzeit auf dem Markt hätte verkaufen können.

»Ein kostbares Ei«, flüsterte er, während er sein Erzeugnis betrachtete. »Auf dem Markt kostet es einen Groschen. Mich kostet es fünf Jahre Studium und nur allzu viele durchwachte Nächte. Aber eine kleine Freude soll der Inspektor doch haben. Dies Mitgebrachte wird ihn wundern.« Mit diesen Worten verschloß er das kostbare Ei in einem Samtetui und ging zur Ruhe.
VIII.

Der alte Inspektor war in der Zwischenzeit noch grauer und hinfälliger geworden. Als er heute seine jungen Gäste bewillkommnete, lag jene Müdigkeit in seinem Gesicht, welche eine baldige Auflösung vorausahnen läßt. Beim gemeinschaftlichen Mahle wurde er aber gesprächig und bald war die Rede bei dem alten Steckenpferd aller, bei der Herstellung der künstlichen Nahrungsmittel angekommen. Man sprach von Erichs Doktorarbeit und vom künstlichen Hühnereiweiß.

»Da habe ich Ihnen etwas mitgebracht«, begann jetzt Erich und holte sein Etui heraus. »Ein Hühnerei frisch aus meinem Laboratorium. Die Stoffe, die es bilden, sind in der Urform, sind als Kohle und Schwefel, als Wasser und Luft in mein Laboratorium gekommen.«

Der Inspektor schüttelte den Kopf und betrachtete das Kunstei von allen Seiten. Dann verließ er schweigend das Zimmer. »Er holt die Konkurrenz«, spöttelte Kurt. In der Tat hatte der Alte seinen Hühnerstall besucht und kehrte mit zwei frisch gelegten Eiern in der Hand wieder. »Nun laßt Euer Kunstprodukt einmal sehen«, begann er und betrachtete Erichs Fabrikat. »Hm, von außen ziemlich ähnlich«, begann er darauf, »aber auch nur von außen. Je tiefer man eindringt, desto mehr merkt man den Schwindel!« Mit diesen Worten hielt er erst das frische Hühnerei mit beiden Spitzen abwechselnd an die Lippen und darauf das Kunstei. »Macht den Versuch einmal nach«, sagte er dann zu seinen Gästen, und als sie es taten, fragte er weiter, »fühlt ihr etwas?«

»In der Tat«, sagte Kurt, »das frische Ei ist an der einen Spitze merklich warm, an der anderen merklich kalt, während das Kunstei überall gleiche Temperatur zeigt.«

»Also doch«, erwiderte der Alte. »Der Unterschied scheint klein, aber er ist riesengroß. Dies frische Ei lebt. Wenn ich es der Henne unterschiebe oder in den Brutofen lege, so wacht dies schlummernde Leben auf. In neun Tagen bildet sich ein fertiger kleiner Vogel in der Schale. In neun Tagen sprengt ein lebendiges Wesen die Schale, welches bereits mit ganz bestimmten Absichten und Instinkten das Sonnenlicht sieht und bereits den Kampf ums Dasein aufnimmt, während ihm noch die Eierschale anhängt. Mein Eiweiß und Eigelb ist lebendig und auf die Erzeugung eines ganz bestimmten Lebewesens gerichtet. Polarisiert würdet ihr gelehrten Herren sagen, denn wo die Begriffe fehlen, da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein. Aber erklärt mir den Unterschied zwischen einem Ei von spanischen Hühnern und einem von italienischen. Ihr werdet ihn chemisch niemals nachweisen können. Beide Eier enthalten aber Leben, und zwar Leben verschiedener Art. Aus dem einen kommt ein italienisches, aus dem anderen ein spanisches Küken. Ebensowenig wie eure künstliche Stärke dem lebendigen Roggenkorn, ist euer künstliches Eiweiß dem lebendigen Ei vergleichbar. Eure Versuche erinnern mich an das Spiel von Kindern, die aus Pappe eine Lokomotive bauen und sie dann am liebsten mit Feuer heizen möchten. Sie weinen dann, wenn die ganze Geschichte im Feuer vergeht.«

»Sie gehen zu weit«, unterbrach ihn Erich. »Wir denken nicht daran, das Leben nachmachen zu wollen. Wir forschen als Männer der Wissenschaft den ewigen unveränderlichen Naturgesetzen nach. Nur allzuschlecht gerüstet sind wir in diesem Jahrtausende alten Kampf. Wie Blinde stehen wir den Naturgesetzen, dem Weltall gegenüber und noch heute gilt das Wort des alten Plato, daß wir immer nur die Phänomena, das heißt den äußeren Schein, aber niemals die Onta, das heißt den Wesensgrund der Dinge selber fassen können. Aber auch dieser Kampf eines Blinden, dem sich manchmal die Binde ein wenig lüftet, hat seine Reize. Schritt um Schritt haben wir die Phänomena studiert und sind mit Hilfe der kombinierenden Vernunft doch näher an die Onta herangekommen. Der Kampf geht seit sechstausend Jahren, und erst wenige Millimeter haben wir auf einer meilenlangen Bahn zurückgelegt. Noch sind uns die beiden größten Wunder der Welt in absolutes Dunkel gehüllt. Noch wissen wir nicht, wie die Materie plötzlich lebendig wird, und noch viel weniger haben wir eine Ahnung davon, wie sich das zweite und wohl noch größere Wunder vollzieht, wie die lebendige Materie plötzlich zum Bewußtsein ihrer Existenz kommt, wie ein Wesen mit Selbstbewußtsein entsteht.«

»Das klingt ja schon etwas anders«, unterbrach der alte Inspektor den Redner.

»Wir stehen heute noch«, fuhr dieser unbeirrt fort, »auf dem Standpunkt des alten Hofrates. Alles was wir wissen, ist unser sicheres Wissen, daß wir nichts wissen, aber wir halten es auch noch weiter mit Sokrates, daß man der Wahrheit zustreben müsse, und wir führen den Kampf um die Wahrheit mit dem vollen Einsatz unserer Kräfte und Gaben. Langsam und kaum merklich, aber doch sicher sammeln wir Erkenntnis. Wenn wir dabei unseren Mitmenschen nützlich sind, wenn durch unsere Arbeit der Hunger von Millionen gestillt wurde, wenn wir für Millionen neue Lebensmöglichkeiten geschaffen haben, so kann uns dies Gefühl über die Wunden trösten, die wir nur allzu oft in dem Kampf mit der rätselhaften Sphinx, der Natur erhalten. So reizvoll und unentbehrlich ist uns dieser Kampf geworden, daß wir ihn kaum noch missen möchten. Wir halten es hier mit Lessing. Wenn uns auf der einen Seite kampflos die volle Wahrheit geboten würde und auf der anderen Seite das Streben nach Wahrheit unter dem Fluch ständiger Kämpfe und Irrtümer, wir würden doch das letztere wählen.«

»Ihr philosophiert heute abend, Herr Doktor«, unterbrach ihn der alte Inspektor. »Tut jetzt meinem Hauswein etwas mehr Ehre an, und eure Eierangelegenheit will ich ebenfalls in gutem Sinne fördern.« Mit diesen Worten zerbrach er das Kunstei und warf es den Hühnern vor, die gierig darüber herfielen.

»Die Tiere sind doch dämlich«, lachte der Alte. »Ich würde das Zeug nicht nehmen, aber es ist auch so gut. Jetzt wird aus dem künstlichen natürliches lebendiges Eiweiß, und wenn Sie in acht Tagen wiederkommen, sollen Sie für das künstliche ein lebendiges Ei erhalten.«

ENDE

 

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