Dunmoore - Kapitel 7: Der Wächter fällt
Kapitel 7: Der Wächter fällt
Der Nebel hatte sich zurückgezogen, aber nicht verschwunden. Er lagerte nun am Rand des Sees, wie ein Tier, das verwundet ist, aber noch nicht tot. Jonas konnte ihn spüren, jedes Mal, wenn er die Augen schloss – ein dünnes Wispern in den Tiefen seines Geistes.
Etwas wartete.
Etwas lauerte.
Doch diesmal war er nicht allein.
Die Spuren des Rituals
Jonas saß im warmen Licht des Kaminfeuers im Pub. Er trank Tee – keine Medikamente, kein Alkohol. Aileen hatte ihm erzählt, was geschehen war. Die Steine. Lia. Das Licht.
„Ich erinnere mich an... Bruchstücke“, sagte er. „Bilder, Stimmen. Ich war irgendwo... unter allem. Nicht tot. Nicht lebendig.“
„Du warst gefangen“, sagte Aileen. „Zwischen den Ebenen. Lia hat dich zurückgeführt – durch mich.“
Jonas sah sie lange an.
„Was ist sie?“
Aileen schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, sie ist das, was die Welt braucht, wenn der Verstand nicht mehr ausreicht.“
Die Entscheidung
Doch der Wächter war nicht zerstört. Nur geschwächt. Der Steinkreis hielt ihn zurück, aber nicht für immer. Lia hatte das selbst gesagt.
„Wenn wir ihn nicht ganz bannen, wird er wiederkommen“, sagte Jonas. „Beim nächsten Nebel. Beim nächsten Opfer.“
Also beschlossen sie, das Werk zu vollenden.
Sie mussten zurück zum Ursprung – dem Stein in der Mitte des Kreises. Dort, wo der Wächter den Zugang gefunden hatte. Dort, wo Jonas verschwunden war.
Nur diesmal würden sie vorbereitet sein.
Das letzte Ritual
Es war eine windige Nacht, drei Tage nach Jonas’ Rückkehr.
Aileen und Jonas standen im Steinkreis, ausgerüstet mit den Zeichen des alten Wissens: die vier Elemente – erneut aktiviert. Doch diesmal trugen sie zusätzlich ein Artefakt, das Lia zurückgelassen hatte: ein Medaillon, das Jonas in seinem Bett gefunden hatte. Darin: ein Haar. Und ein Tropfen Blut – nicht menschlich, wie es schien.
Aileen platzierte das Medaillon auf dem zentralen Stein. Jonas legte seine Hand darauf. Und dann sprachen sie – gemeinsam – die Worte aus Morags letztem Buch, übersetzt in Phonetik, fast klanglos, fast wie ein Summen:
„Zar alun ven’reth. Thal esh kel thon. Vareen dos ul’eth.“
Das Licht aus der Tiefe kehrte zurück – aber diesmal war es nicht fremd. Es war Antwort.
Der Nebel schrie. Nicht als Dunst – sondern als Stimme. Hoch, schrill, voller Zorn.
Der Wächter stieg empor.
Diesmal sah Jonas ihn klar:
Ein riesiges Wesen, formlos und
doch erkennbar, mit hunderten flackernden Augen, Schatten von
Gesichtern in seinem Leib – Emily, Maggie, Morag... und viele,
viele andere.
„Du hast mich gerufen... du kannst mich nicht bannen...“
Jonas trat vor.
„Nein. Aber ich kann dich zurückweisen.“
Er riss das Medaillon hoch – es glühte auf.
Ein
Lichtstrahl durchzuckte den Kreis.
Die Steine bebten.
Der
Nebel zischte.
Dann trat Aileen hinzu.
Sie legte ihre Hand auf Jonas’
Rücken.
„Du bist nicht allein.“
Der Wächter kreischte.
Seine Form begann zu zerfließen –
zu schwinden – zu schrumpfen.
Dann war da nur noch ein Windstoß.
Und Stille.
Der Bruch des Siegels
Am Morgen war der zentrale Stein gesprungen. Eine feine, saubere Linie durchzog ihn – als sei ein Riss durch das Gewebe zwischen den Welten gegangen.
Der Nebel war weg. Nicht nur am See. Überall.
Ein klarer, blauer Himmel spannte sich über Dunmoor.
Der erste seit Monaten.
Ein letzter Blick
Jonas ging ein letztes Mal allein zum Steinkreis. Er setzte sich auf den Rand eines umgefallenen Steins. Atmete tief. Lauschte.
Keine Stimmen.
Nur das Flüstern des Windes im Gras.
Und dann sah er es:
Eine Gestalt am Waldrand.
Dunkler Umhang. Schwarzes Haar. Blasse Haut.
Lia.
Sie sagte nichts. Hob nur die Hand. Dann drehte sie sich um – und verschwand zwischen den Bäumen.
Frieden kehrt ein
Im Pub saßen wieder Menschen. Isla lachte leise. Aileen lächelte müde, aber zufrieden. Die Dorfkinder spielten wieder auf der Straße.
Jonas nahm einen Schluck Kaffee. Zum ersten Mal seit langem ohne bitteren Nachgeschmack.
„Was wirst du jetzt tun?“ fragte Aileen.
Er überlegte kurz.
„Bleiben. Zumindest eine Weile. Es gibt noch Dinge zu verstehen. Und Geschichten, die erzählt werden müssen.“
Dann lächelte er.
„Und jemand muss den Nebel im Auge behalten.“
Fortsetzung folgt nächste Woche.
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