Dunmoore - Kapitel 5: Der Wächter erhebt sich

  

 Kapitel 5: Der Wächter erhebt sich

Dunmoor lag im Schweigen. Nicht im ruhigen, friedlichen Schweigen eines abgelegenen Dorfes – sondern in einem erdrückenden, toten Schweigen, als hätte selbst die Zeit angehalten, den Atem angehalten, aus Angst vor dem, was nun kam.

Denn Jonas Falk war verschwunden.

Und mit ihm verschwand das letzte Licht in den Augen der Dorfbewohner.



Die Entfesselung

Zwei Nächte nach Jonas’ Gang in den See begann der Nebel zu kreisen. Nicht wie Wind. Sondern wie eine eigene, bewusste Bewegung – ein Kreisen, ein Sammeln. Als würde etwas unter der Oberfläche des Wassers erwachen, mit langem, trägem Atem.

Aileen Kerr war die Einzige, die noch hinausging. Mit Revolver, Taschenlampe und einer Kerze, die ihr Isla mit den Worten mitgegeben hatte:

„Alt. Segnungskerze. Meine Großmutter schwor darauf. Wenn du nicht glaubst – dann wenigstens aus Respekt.“

Am See roch es nach Salz und Eisen. Das Wasser war pechschwarz. Kein Mond spiegelte sich darin.

Und dann – hob sich der Nebel.

Nicht wie Dunst.

Wie ein Wesen.

Eine wabernde, sich auftürmende Masse, geformt wie ein Umriss. Hoch, menschenähnlich, aber grotesk verzerrt. Als wäre es durch einen Schleier gezwungen worden, sich zu formen, obwohl es keine Form kannte.

Die Luft wurde schwer. Aileen fiel auf die Knie. Ihre Ohren dröhnten. Ihre Lippen bebten.

Und sie hörte sie alle:
Emily. Maggie. Morag. Und Jonas.

Flüsternde Stimmen – aus dem Nebel, aus dem Boden, aus ihrem eigenen Geist.

„Du hast es zugelassen…“
„Der Wächter ist frei…“
„Die vierte Seele war die letzte Kette…“

Aileen schrie. Aber es war, als würde der Nebel ihren Schrei verschlucken.



Die Angst wird Wirklichkeit

Am Morgen war Dunmoor ein Geisterdorf.

Die ersten Häuser waren leer. Türen standen offen. Frühstück dampfte noch auf den Tellern. Keine Spuren. Kein Lärm. Keine Leichen.

Nur: Abwesenheit.

Aileen kehrte zurück in den Pub, nur um festzustellen, dass auch Isla verschwunden war. Ihre Brille lag auf der Theke, sauber gefaltet.

An den Wänden: das Symbol. Wieder und wieder. In Ruß, in Blut, in Schimmel.

Die Nachricht war klar.

Dunmoor gehört nun dem Nebel.


Der einsame Versuch

Verzweifelt rief Aileen den Polizeiposten im Nachbardorf an – keine Verbindung.

Die Landstraße war unpassierbar, verschüttet durch einen Hangrutsch. Als wäre die Welt selbst dabei, sich von Dunmoor abzukapseln.

Aileen fiel in sich zusammen. Im Polizeiposten, auf dem Boden, umgeben von alten Fallakten, aus denen das Symbol ihr entgegenblickte wie ein Fluch, der schon immer da gewesen war.

Sie hatte gedacht, sie könne helfen. Dass Jonas vielleicht übertrieb. Dass es noch etwas zu retten gäbe.

Aber nun erkannte sie:
Es war zu spät.



Die Wahrheit unter Wasser

Unterdessen – an einem Ort, der jenseits des Sichtbaren lag – existierte Jonas noch.

Nicht lebendig im klassischen Sinn. Und nicht tot. Sondern gebunden. Gehalten.

Er trieb in einer Schwärze, die weder kalt noch warm war. Ohne Zeit. Ohne Gewicht. Nur voller Stimmen. Erinnerungen. Bilder, die nicht seine waren, aber sich in sein Bewusstsein fraßen.

Er sah:

  • Einen uralten Kult, der vor Jahrhunderten den „Wächter“ anrief, um die Grenzen des Todes zu durchbrechen.

  • Die Errichtung des Steinkreises als Anker zwischen den Welten.

  • Die ersten Opfer.

  • Die ersten Versprechen.

  • Und dann: den Verrat.

Der Wächter war kein Gott.

Er war ein Parasit.

Ein Wesen zwischen Raum und Geist, das über die Gedanken der Menschen kam – durch Furcht, durch Schuld, durch Sehnsucht. Das „Tor“ war nie ein Portal.

Es war ein Mensch.

Immer ein Mensch.

Immer einer, der glaubt, retten zu können – und am Ende alles verliert.

Jonas sah sich selbst.
Seine Versagen.
Seine Schuld.
Sein tiefer Wunsch, Bedeutung zu finden – und Frieden.

Und der Wächter flüsterte:

„Ich habe dir das gegeben.“
„Ich bin, was du gesucht hast.“
„Jetzt wirst du mir dienen.“

Jonas schrie – lautlos, im Nichts.

Und der Nebel wurde dichter um ihn.



Kein Entkommen mehr

Aileen saß am Steg, den Revolver auf den Knien. Die Kerze neben ihr brannte noch. Flackernd. Wankend. Aber sie war das Einzige, was nicht vom Nebel verschluckt worden war.

Dann hörte sie etwas.

Ein Tritt.

Nicht im Wasser.

Auf Holz.

Sie hob den Blick.

Eine Gestalt stand am anderen Ende des Stegs. Groß. Bewegte sich langsam. Die Umrisse flackerten – wie ein Bild zwischen Sendern. Mal Jonas. Mal Schatten. Mal leer.

Und die Stimme, ganz nah, obwohl der Mund sich nicht bewegte:

„Aileen… hilf mir…“

Sie konnte nicht atmen.

„Du musst den Kreis schließen… bevor er ganz durchkommt…“

Der Nebel schlug nach ihr. Mit einem Zischen. Die Kerze kippte.

Und ging aus.


Fortsetzung folgt nächste Woche

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