Dunmoore - Kapitel 2: Die Zeichen verdichten sich
Kapitel 2: Die Zeichen verdichten sich
Der Regen begann in den frühen Morgenstunden. Dünn und beständig. Wie ein Schleier legte er sich über das Dorf und den See. Die alte Uhr im Wohnzimmer schlug sieben Mal. Jonas war bereits wach, saß am Tisch, vor sich eine Tasse schwarzer Tee und das Notizbuch mit dem Satz von gestern Nacht: „Der Nebel hat Augen.“
Er wusste selbst nicht genau, warum er ihn geschrieben hatte. Und doch: Das Gefühl blieb. Dieses dumpfe, bohrende Wissen, dass etwas an dieser Leiche nicht stimmte. Nicht auf die übliche Art. Etwas war falsch an ihr – nicht durch ein Verbrechen, sondern durch… Präsenz. Als hätte etwas sie berührt, das nicht von dieser Welt war.
Dorfgerüchte und alte Legenden
Im Pub saßen drei Männer beim Frühstück. Als Jonas eintrat, wurde es still für den Bruchteil einer Sekunde. Nur das Kratzen von Besteck auf Tellern war zu hören. Dann nickte einer von ihnen knapp, ein anderer murmelte: „Morgen.“
Jonas bestellte Kaffee. Isla McBride stellte ihn wortlos vor ihn hin. Dann beugte sie sich vor, flüsterte: „Sie war die dritte.“
Jonas hob den Blick. „Die dritte… was?“
„Die dritte junge Frau, die man tot am See fand. Immer in Jahren mit dichten Sommernebeln. 1981. 1954. Und jetzt wieder. Der Nebel nimmt, was er markiert.“
Er wollte fragen, was das bedeute, doch da drehte sie sich schon wieder zur Kaffeemaschine.
Das Symbol
Zurück im Cottage rief Constable Aileen Kerr an.
„Jonas? Ich hab’s dir gestern nicht gezeigt. Ich wollte nicht vor den anderen… aber ich habe das Symbol fotografiert. Ich hab’s jemandem geschickt, der sich mit keltischen Symbolen beschäftigt. Er sagt, es ähnelt einer alten Schutzrune. Oder… eher ihrem Gegenteil. Einer Bannung. Ein Zeichen, um jemanden loszuwerden. Auszuschließen. Oder einer Macht auszuliefern.“
Jonas antwortete nicht sofort. Bannung. Ausgeliefert.
„Wo genau lag das Symbol auf ihrer Stirn?“, fragte er schließlich.
„Ziemlich mittig. Und flach eingebrannt. Ohne Werkzeug. Keine Hitzequelle. Keine Farbe. Es sieht aus, als hätte… etwas es durch Gedanken oder Kraft eingeprägt. Und ihre Großmutter sagte, sie hätte das Zeichen gezeichnet – am Vorabend – im Nebel, mit dem Finger.“
Jonas fröstelte. „Was meinst du: Sie hat es in die Luft gemalt?“
„Genau. Ohne Grund. Einfach so. Als hätte sie es gesehen. Oder gespürt.“
Das Tagebuch von 1894
Am Nachmittag fuhr Jonas zur alten Bücherei des Dorfes. Ein enger Raum im Erdgeschoss eines viktorianischen Hauses, vollgestopft mit verstaubten Folianten, Landkarten und Zeitungsbänden.
Aileen hatte ihm von einem alten Tagebuch erzählt, das dort aufbewahrt wurde – geschrieben von einem gewissen Pater Alaric McCrae, einem katholischen Geistlichen, der Ende des 19. Jahrhunderts in Dunmoor lebte.
Die Bibliothekarin, eine dünne Frau mit zitternden Händen, übergab es ihm wortlos.
Jonas setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster. Der Regen peitschte gegen die Scheibe. Der Eintrag vom 3. Juli 1894 ließ ihn erstarren:
„Heute starb erneut ein Mädchen im Wasser. Keinerlei Wunden. Nur das Mal auf der Stirn. Wie bei den anderen. Der Nebel ruft, sagt man. Ich glaube nicht an Dämonen, aber ich glaube an das, was Angst macht. Die Alten sprechen vom Wächter. Einem Wesen, das zwischen den Welten lebt. Der Steinkreis am Nordufer – dort, wo das Licht nicht hingeht – soll das Tor sein. Ich werde heute Nacht dort beten.“
Jonas legte das Buch zur Seite. Der Steinkreis. Ein Tor. Ein Wächter.
Die erste Spur
Noch am selben Abend fuhr er mit Aileen zum Nordufer des Sees. Der Weg war schlammig, die Bäume auf dem schmalen Pfad wirkten wie erstarrte Wächter mit knorrigen Armen. Der Regen hatte aufgehört, aber der Nebel war dichter als je zuvor.
Dann, plötzlich, standen sie davor: ein Ring aus neun moosbedeckten Steinen, jeder etwa einen Meter hoch, teils umgefallen, teils versunken. In ihrer Mitte: ein flacher, runder Stein. Auf ihm dasselbe Symbol wie auf Emilys Stirn – eingeritzt, fast verwittert, aber eindeutig.
Aileen flüsterte: „Ich wusste nicht, dass es das hier wirklich gibt. Mein Vater hat davon erzählt, aber ich dachte immer, das wäre nur ein Märchen.“
Jonas ging in die Mitte des Kreises. Die Luft war kälter hier. Stiller. Und wieder dieses Gefühl… als wäre man nicht allein. Als würde etwas unter der Erde lauschen.
Er kniete sich hin, berührte den Stein. Für einen Sekundenbruchteil blitzte ein Bild in seinem Kopf auf – Wasser, das sich rot färbt. Ein Schrei, gedämpft durch das Gewicht der Tiefe.
Er schreckte zurück. Atemlos.
„Jonas?“ Aileen sah ihn an. „Alles in Ordnung?“
Er nickte langsam.
Aber in Wahrheit wusste er: Die Dinge, die hier geschahen, ließen sich nicht mehr erklären. Es war kein Zufall. Kein Mörder, der eine makabre Signatur hinterließ.
Etwas hatte sich bewegt. Erwacht. Und es hatte Emily Doran geholt.
Ein ungelöster Konflikt beginnt
In dieser Nacht schrieb Jonas nicht. Stattdessen saß er am Fenster, eine Decke um die Schultern, den Blick auf den Nebel gerichtet, der über den See kroch wie lebendiger Atem.
Er konnte nicht schlafen.
Denn er wusste jetzt: Wenn das Symbol ein Tor öffnete, dann war es noch offen.
Und wenn der Nebel Augen hatte, dann waren sie jetzt auf ihn gerichtet.
Fortsetzung folgt nächste Woche.
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